Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig. Franz Werfel
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Название: Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig

Автор: Franz Werfel

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 4064066114367

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СКАЧАТЬ genommen. Ich sah ihn nicht. Die Beklommenheit fiel und ich überließ mich dem Traum. Aber es waren viele Träume:

      Hexen ritten, während der Winterwind die Tannen entwurzelte, dürr, nackt und mit flatternden Strähnen auf wippenden Ästen. Schweigend, grün, unendlich tat sich der Meerboden auf. Algen sanken wie Schleier nieder, langsam schwebten Riesenquallen, namenlose Fische zogen in Scharen durch eine warme Strömung, ein Tier, das bläuliche Strahlen warf und wie eine Lampenkugel mit Schwanz und Flossen aussah, stieg majestätisch empor. Auf dem Grunde, der ein Gebirge, gebaut aus Muscheln, Korallen, Riesenkrebsen, rostigen Ankern und verstreuten Edelsteinen war, faulte die von Fischen angefressene Leiche eines Steuermanns, und ganz in der Ferne, wo der Schein der Tiefe glasig wie unnatürlicher Schlaf erschien, schwankte das Wrack einer Fregatte mit hohem Kiel, gekipptem Mast und quadratischen Kabinenluken im langsamen Rhythmus des unsichtbaren Wogengangs. Vom Bugspriet schimmerte eine winzige Laterne seit Jahrhunderten unerloschen mitten im Leib des Wassers. Doch nicht genug damit. Auch die Wolfsschlucht erlebte ich. Der Wind stürzt die Brücke ein, die über den Wasserfall führt, Eulen schweben, das Wildschwein ist zu hören, zwei Töne grunzt es ununterbrochen wie ein Fagott, Kaspar gießt im Flammengeprassel die Freikugeln, Samiel fährt im roten Feuermantel aus einer Höhle.

      Ich kannte diese Geschichte sehr gut. Ein Kamerad, der einzige, mit dem ich mich verstand, hatte sie mir oft erzählt.

      „Samiel hilf!“ schallte es durch den Wind. Wir rasselten weiter ins Dunkel. Ich vernahm die Stimme des Vaters.

      „Was war das?“ fragte er, nicht wie einer, der prüft, sondern wie einer, der selbst nichts weiß. Da wir uns ja nicht sahen, durfte er sich etwas vergeben.

      „Das war Freischütz,“ gab ich zur Antwort.

      „Was ist das, Freischütz?“ hörte ich seine Stimme, diesmal aber ohne Nachdruck.

      „Freischütz ist eine Oper,“ dozierte ich, Wort für Wort setzend wie ein Lehrer.

      „Eine Oper — so?!“

      Der Vater meinte das verdrießlich und gleichgültig, aber es war nicht zu vertuschen, es gab eine Welt, wohin er mir nicht folgen konnte; ich hatte ihn überwunden. Stolz straffte mich. — Jetzt hätte ich reiten können!!

      Das Größte aber, was es gab, war das Erdbeben von Lissabon. Trotzdem einer der Mitschüler mir vorgeschwärmt hatte, in der Grottenbahn wäre der ganze Weltuntergang zu sehn, war ich nicht enttäuscht.

      Wie die Häuser der Stadt dastanden grell und weiß in dem blauesten aller Tage, wie das Meer voll roter und gelber Segel den Horizont hinanstieg, wie jetzt nach und nach das wilde Gezwitscher der Vögel verstummt, und — die Sonne steht hoch am Himmel — es langsam immer dunkler und toter wird! Wie man fühlt, daß die Menschen vor der grauenhaften Erscheinung dieser Dunkelheit mitten am Tag sich in die Häuser flüchten und in den Kellern verstecken! Da ist es auf einmal ganz finster und plötzlicher Sturm wirbelt eine ungeheure Staubhose in die Schwärze, der das Tosen von Millionen Donnern, Kanonenschlägen, Hagelwettern und Explosionen folgt. Unsichtbar das Meer mit einer Riesensturzflut überschwemmt die Nacht und tritt sogleich zurück. Und diese Finsternis? Dauert sie tagelang, jahrelang oder nur die halbe Minute, die sie wirklich dauert? Jetzt hellt sie sich ein wenig auf. Feuerschein immer mehr, und der Riesenbrand der Stadt leckt mit Millionen Flammen und Schatten den Himmel aus, während heiser und schwach — denn wie ferne in Zeit und Raum geht dies alles vor sich — Zischen, Sud und Geprassel das Züngeln begleitet.

      Gleich als wir ins Freie traten, wurde es mir in der Seele warm und gut. Daß ich gewußt hatte, daß es „Freischütz“ und überhaupt ein Ding gab, das sich Oper nannte, und daß ich meinen Vater hatte belehren können, richtete mich auf. — Einst würde ich Rapport halten, und sein Mund, der nur den harten Akzent des Dienstes kennt, wird stocken müssen.

      „Nun wollen wir uns restaurieren“, sagte der Vater. Wir kehrten in einen Kaffeegarten ein. Ach, wie gütig war doch heute der Gestrenge. Er fragte mich sogar: „Was wünschest du zu nehmen, Karl?“

      Ich brachte kein Wort heraus. Er aber kaufte dem Kuchenpikkolo drei Leckereien ab, legte zwei davon zu der Tasse Schokolade, die er mir bestellt hatte und behielt selbst nur eine. Mein Herz schämte sich.

      Das war der Papa, der vor mir saß. Der Große, Bewunderte, Alleswissende, Alleskönnende! Wen hatte ich denn sonst noch auf der Welt als ihn? Ich liebte ihn ja! Ich sehnte mich in bitteren Nächten nach seiner Liebe, und der Schmerz aller Erniedrigungen war nichts gegen die Qual jenes oft geträumten Traums, da ich ihn in Pulverdampf gehüllt, seinem Bataillon voraussprengend in die Luft greifen und fallen sah!

      Wohin sollte meine kleine Seele mit den hin und her gerissenen Gefühlen? Der Vater winkte einen Kellner heran! „Wo ist hier die Schießstätte?“ Der Mann gab Auskunft.

      Das väterliche Auge sah mich scharf an. „Wir werden jetzt etwas Nützliches tun! Ich will sehen, ob du zum Plänkler taugst.“ Ich war aus dem Himmel meiner Zärtlichkeit geworfen und sogleich kehrte der bittere Geschmack zurück.

      Auf dem Wege zur Schießstätte aber erlebte ich das Furchtbare, das meine ohnehin schon zerstörte Kindheit noch mehr zerstören sollte.

      Vor einer großen Bude drängte sich eine Menge von Leuten. Eine gemütliche, etwas fette Stimme war zu hören: „Fürchten Sie sich nicht, meine Herrschaften! Nur immer heran! Was kann man besseres an seinen Feinden tun, als ihnen den Hut vom Kopf werfen! Man muß nur geschickt sein. Man muß nur gut zielen können! Immer nur heran, meine Herrschaften! Lernen Sie, ihren Feinden den Hut vom Kopf werfen! Das ist gut für alle Parteien: gut für Klerikale, Agrarier und Sozialisten!“

      Wir traten näher. Auf dem Ladenbrett der Bude waren große Körbe mit roten, blauen und weißen Filzbällen zu sehen. Hinter dem Brett stand der Budenbesitzer, ein Mann von schlau-gutmütigem Aussehn, der eine Militärkappe und einen roten Kaiserbart trug. Er zwinkerte vielsagend mit den Augen, wenn er die Bälle ausgab und die Münzen einstrich; dann sagte er wohl: „Nur gut zielen, mein Herr, Sie werden schon den richtigen treffen!“ Und die Leute zielten und warfen, daß die Bälle sich nur so in der Luft kreuzten. Das Gelächter wollte gar nicht aufhören.

      Wohin aber zielten und warfen sie? Mein Entsetzen war grenzenlos! Auf lebendige Menschen! Lebendige Menschen wurden von ihnen gesteinigt. Nein, das war ja nur eine Täuschung. Gott sei Dank, es sind ja nur Puppen, nur Figuren, denn solche Menschen hätte die Erde niemals tragen können.

      Und welche Bewegung? Auf und nieder! Auf und nieder!

      Mir schwindelte.

      Der tiefe Hintergrund der Bude war dreifach geteilt. Rechts und links sah man hintereinander erhöht je zwei Bänke; aus jeder dieser Bank tauchten in hypnotischer Regelmäßigkeit auf und nieder, auf und nieder je drei Gestalten! Zwölf durch alle Höllen gehetzte Grimassen stiegen in magnetischem Rhythmus aus den Bänken auf und versanken wieder. Stiegen auf, — versanken.

      Die verzerrten Physiognomien, die zynisch aus dem Abgrund auffuhren, um wieder dahin zurückzukehren, waren so genial voneinander unterschieden, daß ich keine von ihnen je vergessen könnte. Da war ein unerbittlicher chinesischer Mandarin, ein unsagbar jüdischer Jude, ein Offizier mit Pferdezähnen in der Uniform einer phantastischen Fremdenlegion, ein scheußlich rotwangiger Henker in Frack, ein Jesuit, wie ein schwarzer und böser Strich, ein knopfblanker Bauer mit einer zerfressenen Nase, die ihm wie eine Traube von roten Beeren aus dem Gesichte hing, ein Neger, ein Gehenkter, ein Mensch im Zuchthauskittel, eine besoffene Teerjacke, ein Spitalsbruder, ein Brigant und ein lebendig Begrabener.

      Um das СКАЧАТЬ