Название: Grenzgängerin
Автор: Evelyne Binsack
Издательство: Bookwire
Жанр: Путеводители
isbn: 9783037637395
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Es war Januar 2012, als ich mich von meinen Lieben verabschiedete und nach Los Angeles reiste. Die Millionenmetropole, direkt an der US-amerikanischen Pazifikküste, mag für viele eine Traum-Destination sein, für mich war sie der reine Albtraum. Nicht nur, dass ich schon wieder weit weg war von meinem Lebenspartner, meinen Freunden und meinen geliebten Bergen, nein, es war erst noch Winter, und während ich in Hollywood die Schulbank drückte und erfolglos versuchte, mein Heimweh zu verdrängen, unternahmen sie daheim die tollsten Skitouren. Aber was ich mir in den Kopf gesetzt hatte, zog ich durch. Umso mehr freute ich mich, im Mai für ein paar Tage heimzukommen, um meinen 45. Geburtstag zu feiern.
Wir richteten uns gemütlich in meiner Waldhütte ein, die ich vor ein paar Jahren gekauft hatte und in die ich mich seither gern hin und wieder zurückziehe, wir grillierten, lachten – das Leben war gut. Kaum hatten sich dann die letzten Gäste verabschiedet, überraschte mich mein Partner mit einem speziellen Geburtstagsgeschenk: »Evelyne, ich liebe eine andere Frau«, sagte er, einfach so. Sein Geständnis traf mich wie ein Faustschlag. Wir hatten in unserer zweijährigen Beziehung weder Krisen noch Streitereien gehabt. Nie zuvor war ich mir so sicher gewesen, meinen Seelenpartner gefunden zu haben. Bis dass der Tod uns scheidet, das war für mich klar. Ich finde keine Worte, um zu beschreiben, was ich damals fühlte. In Momenten wie diesen ist meine Sprache am Ende.
Die Bilanz nach meiner Geburtstagsfeier war rabenschwarz: Seit meinem Unfall funktionierte mein Gehirn nicht mehr wie früher, ich konnte mich schlecht konzentrieren, würde vermutlich die Höhe nicht mehr gut vertragen, was ich bereits bei kleineren Bergtouren in der umliegenden Region spürte, und meine Beziehung war ein Scherbenhaufen. Auch der laufende Strafprozess gegen die Unfallverursacher vor einem Jahr setzte mir nach wie vor zu. Ich kannte den Ausgang nicht, musste viel Geld investieren, es wurden Unwahrheiten verbreitet. Erst als mein ehemaliger Partner und ich uns kurz vor meiner Rückkehr nach Los Angeles dazu entschieden, uns noch einmal eine Chance zu geben, fasste ich neuen Mut. Weitere sieben Monate später beendete ich die Filmschule und kehrte hoffnungsvoll in die Schweiz zurück. Doch kaum war ich zwei Wochen daheim, hatte mein Freund erneut eine Überraschung für mich bereit: Er brauche eine Auszeit, sagte er. Das war endgültig zu viel für mich. Ich klappte wortwörtlich zusammen. Minuten fühlten sich an wie Stunden, Stunden wie Tage, und die Tage dehnten sich ins Endlose aus. Die Zeit stand still, während ich in einem Gefühl der Angst und Unsicherheit verharrte. Ich war am Tiefpunkt angelangt.
In meiner Verzweiflung rief ich meine Schwester an. Ich brauchte sie, denn ich wusste nicht, auf was für Gedanken ich in meiner Not noch kommen würde. Sie kam sofort zu mir, und wenig später fand ich mich bei einem Psychologen wieder, der mich als Notfall aufnahm. Nach ein paar Tagen hatte ich mich wieder einigermaßen aufgerappelt. Auch meine Freundinnen waren mir in jener Zeit eine wertvolle Stütze. Bei einem der unzähligen Gespräche fragte ich eine von ihnen, was ihr damals über die Trennung von ihrem Lebenspartner hinweggeholfen habe.
»Mein Entschluss, eine neue Herausforderung anzusteuern und die Bergführer-Ausbildung zu machen«, antwortete sie. Als sie für sich dieses hohe Ziel gesetzt habe, sei es mit ihr aufwärtsgegangen. In diesem Moment klopfte der Nordpol wieder an meine Tür, und zwar in einer Heftigkeit, die mir keine andere Wahl ließ, als ihn hereinzubitten. Lange hatte ich ihn ignoriert. Aber ich wollte dieses Ziel, meinen dritten Pol, trotz allem erreichen, das wurde mir schlagartig bewusst. Er war der gute Freund, den ich so lange vermisst hatte und der jetzt plötzlich wieder vor mir stand und mich herzlich umarmte.
Sofort begann es in meinem Kopf zu rotieren. Mein erster Gedanke war, dass ich von daheim aus mit dem Fahrrad nach Russland fahren und von dort aus eine wilde Tour zum Nordpol machen könnte. Ich recherchierte, merkte aber schnell, dass sich dieses Unterfangen nicht finanzieren ließe. Zusammen mit der logistischen Unterstützung, hätte mich diese Ost-Variante mindestens eine halbe Million Franken gekostet. Dieses Geld hatte ich nicht, und ich wollte es auch nicht mit der Hilfe von Sponsoren auftreiben. Außerdem war mir klar, dass ich mich nicht noch einmal so nahe am Limit bewegen wollte wie damals bei meiner Expedition zum Südpol. Ich überlegte, suchte Lösungen. Eine Alternative wäre die West-Variante via Nordkap, Grönland und Spitzbergen bis zum Nordpol. Diese wäre kürzer und ließe sich in vier einzelne Etappen aufteilen, was mir zwischendurch immer wieder Verschnaufpausen daheim ermöglichen würde.
Doch mein Ego und mein Stolz stellten sich quer. Sie wollten nicht die bequeme West-Variante – die ich innerlich als Angsthasen-Route zu bezeichnen begann, weil sie kürzer war und auf der ersten Etappe durch touristisch erschlossene Gebiete führte. Mein Ego wollte die wilde, die ursprüngliche, die coole Variante via Russland! Aber wie ich es auch drehte und wendete: Die West-Variante war die vernünftigere von beiden. Sie war meine reelle Chance, nach dem Everest und dem Südpol noch meinen dritten Pol zu erreichen. Die Entscheidung fiel mir trotzdem schwer – denn für mich bedeutete die Angsthasen-Route ein Eingestehen von Schwäche. Das Gute an der Sache aber war: Ich hatte meinen inneren Widerstand gegen den Nordpol bezwungen und einen riesigen Schritt vorwärts gemacht. Ich hatte wieder ein Ziel, endlich.
DIE VORBEREITUNG
2013 bis 2016
Abenteuer wie die bevorstehende Expedition zum Nordpol oder auch die Expedition zwischen 2006 und 2007 zum Südpol benötigen nebst aufwendigen Vorbereitungen und großen physischen Grundvoraussetzungen vor allem eines: die Bereitwilligkeit im Kopf. Eine absolute mentale und geistige Zusage für das Ziel. Für das Ziel, von dem man weiß, dass es einen in seiner Härte an die Grenzen und zeitweise darüber hinaus fordern wird. Eine solche innere Bereitschaft entsteht nicht über Nacht. Sie ist das jahrelange, langsame Heranwachsen einer Energie, die nach außen unsichtbar ist, von der aber alles abhängt. Vor allem das Überleben. Deswegen wähle ich für meine Nordpolexpedition den Namen »90° North – 100 % Commitment«. Neunzig Grad nördliche Breite beschreibt den geografischen Nordpol. Um dieses Ziel aus eigener Muskelkraft zu erreichen, braucht es ein hundertprozentiges Commitment, eine hundertprozentige innere Verpflichtung gegenüber dem bevorstehenden Ziel. Es ist das Bejahen von Ängsten und Zweifeln, von Mängeln und Unsicherheiten. Es ist das Eintauchen in eine bedrohliche Welt, die alles von einem fordert, alles von einem nimmt, in der man nichts mehr verlieren kann und das Überleben das Einzige ist, das übrig bleibt.
Reinhold Messner spricht in diesem Zusammenhang in einem Interview, das ich mit ihm für meinen Dokumentarfilm führte, von »Wiedergeburt«. Er sagte: »Diese Wiedergeburt, also dieses Gefühl, wiedergeboren zu sein, ist nur möglich, wenn ich aus einer lebensgefährlichen Welt komme. Die Kunst ist, nicht umzukommen. Aber ich gehe los und weiß, es könnte etwas passieren. Denn wenn ich allein unterwegs bin, muss nur eine Kleinigkeit passieren, dann bin ich tot. Aber ich will nicht umkommen. Und ich habe zum Glück einen Überlebensinstinkt, der mich wahrscheinlich rechtzeitig vor dem Risiko warnt. Nur so kommen die Ängste zum Tragen, die Zweifel und die Hoffnungslosigkeit. Ich werde zurückgeworfen auf meine Beschränktheit und auf meine Mängel. Und obwohl ich also umkommen könnte, gehe ich dorthin, um nicht umzukommen. Dann komme ich zurück, und mir ist nichts passiert. Ich schnaufe durch, vor allem wegen dieses Gefühls: Ich bin wiedergeboren.«
Nebst der mentalen ist auch die praktische Vorbereitung für den Nordpol eine Expedition für sich. Selbst wenn ich mich dazu entschieden habe, den Gang zum Nordpol in vier Einzeletappen aufzuteilen, bleibt die Beschaffung des Materials anspruchsvoll. Alles ist sehr individuell, kaum etwas lässt sich delegieren. Es gibt in der Schweiz zwar unzählige Bergsportläden, aber keinen einzigen СКАЧАТЬ