Название: Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке
Автор: Александр Иличевский
Издательство: КАРО
Жанр: Зарубежная образовательная литература
Серия: Russische moderne Prosa
isbn: 978-5-9925-1410-0
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Sie verpasste keinen Sonntagmorgen. Führte ständig einen Kalender, trug auf einem Block Reihen mit Buchstaben und Zahlen ein.
Sie klammerte sich an die Kalendermarken wie ans Leben, und wenn sie einen Tag verpasste – oder nicht sicher war, ob sie einen verpasst hatte oder nicht – war es für sie eine wahre Pein, so sehr quälte sie die Ungewissheit. Die Bindung an die Tage war für sie eine Grundfeste im Leben. Den Sonntag sehnte sie herbei, an ihn dachte sie während der leeren und endlosen Woche.
Nur am frühen Sonntagmorgen zeigte Moskau sein wahres Wesen. Bei Sonnenaufgang ging Nadja in den Pawlik- Morosow-Park, schlenderte über die Wiesen, sammelte eifrig Müll, legte ihn neben die überquellenden Mülleimer. Sie trat hinaus auf die Krasnaja Presnja; die weite Straße eröffnete sich vor ihr als riesenhaftes Parallelepiped von rosa Luft; die Häuser – Reihen gerippter Fassaden, wie der raue Rand einer Muschel – stützten die schwebende luftige Weite. Die helle Pyramide des Hochhauses* ließ die Ferne gewaltig nahekommen. Der Asphalt erholte sich von den tagsüber dahinjagenden, drängelnden Autos. Ein Sprengwagen kroch am Straßenrand entlang und wirbelte mit seinem spritzenden Schnurrhaar Staub und kleinen Müll auf.
Nadja nahm die Abkürzung durch die Höfe, überquerte den Wolkow Pereulok und setzte sich auf eine Bank. Ein hoher Betonzaun umgrenzte eine felsige Insel. Gekrönt wurde sie von einem Berg, der mit zapfenförmigen Lehmhütten, Bienenstöcken und schwarz gähnenden Höhlen übersät war, mit Pfählen und dazwischen gespanntem Tauwerk: Stricken, Hängebrücken, Motorradreifen und an Rohrstücken aufgehängten Tarzanseilen.
Langsam erwachten die Makaken. Sie krochen aus den Hütten, setzten sich an den Eingang, putzten und kratzten sich, erstarrten. Das verschlafene, breite Gepräge ihrer Körper empfing dankbar die ersten Sonnenstrahlen.
Unten in den Gehegen erwachten die Orang-Utans. Langgezogene jaulende Uh-uh-uhs erfüllten die Umgebung.
In den oberen Etagen wurden die Lüftungsfenster zugeschlagen.
Der Pfau schrie, Hyänen gackerten, Gänse schnatterten, Schwäne knarzten, Raubvögel kreischten, Singvögel schmetterten.
Der morgendliche Lärm weckte Nadjas Fantasie. Der kakophone Vielklang durchdrang die durchsichtigen Freudenballons. Sie wiegte den Kopf und seufzte …
Als sie eine Weile gesessen hatte, stand sie unentschlossen auf, lief langsam los, durchquerte die Grünanlage, schaute lächelnd mal auf ihre Füße, mal nach oben, auf das Band des schaukelnden Himmels, schaute die Häuser an, die Fenster, in jedem hätte sie gerne mal gewohnt. Nicht lange, nur ein bisschen, mal ehrfürchtig hineingehen, sich das Leben betrachten, eine Parzelle seiner Heiligkeit – oder vielleicht nicht einmal hineingehen, sondern nur kurz vorbeischauen, mit angehaltenem Atem, wieder hinausgehen, ausatmen, weiterziehen … Und sie ging, glitt am schwankenden Strom der Schaufenster entlang, ein vorbeifahrender Bus berührte plötzlich als Druckwelle die wankende, tiefe Spiegelung, brachte die Ordnung der Straßenwerdung durcheinander: Himmel, Äste fielen nieder, die Straße wogte, stülpte sich auf zu einem Asphaltsee, Bordsteine, Parkumzäunungen zerschlugen, Autos kippten – und Nadja schauderte (plötzlich drehte sich ihr der Kopf und entschwand langsam und unmerklich: wen soll man bitten, schneller zu machen, hilf uns, Tod, langsamer Schritt) und lief dann, wieder eingerenkt, zurückgeschreckt, weiter, lief vergnügt, warum auch immer, wie Wadja, wenn er dem Hausmeister antwortete: »Wir sind Straßenmenschen, Mann. Straßenmenschen, klar?«
Und wieder strebte ihr Atem als Rinnsal aufwärts, in das leere, blendende Blau; wie sehr wünschte sie sich, dass dieses ungreifbare Ausströmen aufhören und sie mit einer leichten Umkehrbewegung erfüllen würde. Sie wusste nicht, wohin sie floss und was da spurlos in ihr verschwand, dafür gab es keinen Namen, nur ein kaltes Ästlein durchzog sie – von der Schulter durch die Brust zur offenen Hand. Langsam zog sie den Faden der Stadt durch sich hindurch, durch die Augen, bis nichts mehr übrig war.
Einmal setzte sich lärmend ein großer grauer Vogel auf einen Baum. Einer seiner Flügel hing herunter. Der Vogel saß da und schaukelte, dann streckte er den langen Hals in die Höhe, blähte den Kropf, nickte – sein furchtbarer Schrei ließ Nadja aufspringen. Wieder nickte der Vogel, blähte den Hals, brüllte und heulte. Als er genug geschrien hatte, flog er hinunter und klopfte mit dem Flügel auf die Erde.
Nadja nahm ihn in den Arm und trug ihn zum Eingang des Zoos. Der Milizionär holte einen Mann mit Brille und Regenumhang. Der ähnelte einer schmuddeligen rostigen Maschine. Sein Brillenbügel war mit Draht umwickelt. Er zog dem Vogel vorsichtig am Flügel. Der Vogel riss sich los, verschwand unter dem Umhang, der Mann half ihm raus und schnarrte mit schreckverzerrtem Gesicht:
»Was guckst du so? Bring die Gans zu Matwejew!«
XXX
Seit Nadja die Rohrdommel hergebracht hatte, war der Zoo ihr Reich.
Der Veterinär Matwejew hatte sie bei den Raubtieren herzlich willkommen geheißen. Ein grimmiger, dicker Trinker, der seinen Hass auf die Menschen durch die Liebe zu den Tieren wettmachte. Von allen Tierpflegern konnte nur er sich im Beisein der Mutter dem Nashornjungen nähern, um es zu untersuchen. Nur er konnte rund um die Uhr bei der Schimpansin wachen, die eine schwierige Schwangerschaft durchmachte. Nadja war er aus irgendeinem Grund zugetan[46].
Im Zoo zog sie orange Arbeitskleidung an und brachte Futterrüben zu den Gehegen. Sie schob einen kleinen Wagen von Futtertrog zu Futtertrog, packte das lange, kräftige Grünzeug und schleuderte die knorrigen rosa Köpfe hinüber. Gnus, Bisons, Yaks, Wisente, langschnauzige Kulane trotteten verschlafen zu den Trögen, schubsten sich gegenseitig mit ihren grässlichen Mäulern, knirschten und knarzten das saftige Grünzeug. Für die Kropfgazellen musste man die Rüben mit einem Handbeil zerteilen. Nadja schaffte das nicht. Sie konnte sich einfach nicht entscheiden, in welcher Hand sie das Beil halten sollte, und wurde starr vor Anspannung.
Wenn sie mit der Fütterung der Paarhufer fertig war, eilte Nadja zur Bärin. Die lief durch die graue Ödnis des leeren, weiten Geheges und zog die linke Hintertatze nach. Die Bärin war vollkommen kahl und sah aus wie eine nackte alte Frau. Sie war grau wie ein Stein. In der glatten Betonebene sah man sie nicht sofort. Auf Anweisung der Direktion wurde dem Publikum der Blick auf das Gehege durch Sperrholzplatten verwehrt. Das abstoßende, armselige Bild der Bärin war nicht für die Besucher bestimmt. Aus irgendeinem Grund hatte Matwejew verboten, sie einzuschläfern. Dem Direktor gesagt, eher würde er eigenhändig das gesamte Personal einschläfern.
Jeden zweiten Tag gab der Doktor Nadja für die Bärin eine Handvoll Undevit und Vitamin C. Sie zählte die Tabletten sorgfältig nach und notierte sich die Zahl auf der Handfläche.
Nadja hatte von sich aus begonnen, zu der Bärin zu gehen, niemand hatte sie darum gebeten. Es waren hungrige Zeiten, und die Raubtiere im Zoo wurden mit eingeweichtem Soja gefüttert; es gab die Idee, zur Fütterung mit Hundekadavern überzugehen. Streunende Hunde gab es – wegen des Hungers – in rauen Mengen. Die Obdachlosen scheuten sie wie das Feuer. Die herrenlosen Hunde wüteten, da die Müllplätze in der Stadt leer waren. Es gab Gerüchte von Rudeln, die in verfallenen Lagerhallen im Südhafen hausten. Diese Meuten umringten Menschen auf der Straße, drängten sie in die Ecke. Einige Besitzer hatten sich von ihren Rassezöglingen losgesagt. Zuweilen konnte man in den Rudeln bis zur Unkenntlichkeit abgemagerte Rottweiler, Moskauer Wachhunde, sogar Bernhardiner entdecken. Die Abdeckerei auf der Junnatow-Straße, aus der es nach giftigem Chlor roch, hatte dem Zoo angeboten, Hundefleisch zu liefern. Matwejew hatte das Angebot abgelehnt.
Die Bärin aß СКАЧАТЬ
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j-m zugetan sein (