Rittmeister Brand; Bertram Vogelweid. Marie von Ebner-Eschenbach
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СКАЧАТЬ als zwischen Elf und Zwölf zu kommen, wußte Brand nicht und konnte es nicht wissen. Aber möglich war’s ja doch, und wenn ein vernünftiger Mensch eine Möglichkeit einmal angenommen hat, dann richtet er sich auch nach ihr ein.

      Er war ein guter Geher und erreichte in erstaunlich kurzer Zeit sein Ziel, die lange Berggasse. Sie machte ihrem Namen Ehre und stieg ziemlich steil in die Höhe. Zwischen ihren alten, niedrigen Häusern ragten hie und da neue, thurmartige Zinskasernen in den Himmel und raubten seinen Anblick ihrem armen Gegenüber und waren trotz ihres unverschämt protzigen Aussehens doch nur Wohnstätten der Armuth und der Noth.

      Auch Nummer 19 hatte solch’ ein lichtraubendes vis-à-vis und schien aus Ehrfurcht vor ihm halb in die Kniee gesunken. Brand trat durch das schiefe Thor in einen elend gepflasterten Hof, der ein schmales, unregelmäßiges Viereck bildete. Rings um die zwei Geschosse liefen offene Gänge mit Geländern aus verbogenen Eisenstäben. Die Fenster waren klein und in defektem Zustande. Im Hofe unter einem Vordach über dem Eingang, der zu der Hausmeisterwohnung führte, beschäftigte sich ein derbes Weib mit dem Reinigen des Küchengeräthes und wurde dabei von einer Schar von Hühnern umgackert und von zwei Katzen umschmeichelt. Auf einem leeren Fasse saß ein schwarzer Kater; und ein kleines, steinaltes, kaffeebraunes Thierchen, mit weißen Pfoten und langen, flatternden Ohren, das beim Anblicke Brands eine Art Gebell erhob, mußte man erst eine Weile betrachten, um zu erkennen, daß es zum Hundegeschlecht gehörte.

      Die Hausmeisterin musterte den durch das Hündlein Angekündigten vom Kopf bis zu den Füßen und fragte unfreundlich: »Was wünschen’s denn?«

      Auf einem Gang des ersten Geschosses war eine alte Frau mit zerzausten Haaren und mit einer Brille auf der Nase, in einen fettigen Schlafrock gekleidet, erschienen, hatte sich ängstlich umgesehen, einen kleinen zerfetzten Teppich auf das Geländer gelegt, und angefangen, ihn so leise als möglich auszuklopfen.

      Aber die Hausmeisterin bemerkte die geplante Unthat sogleich und hemmte ihre Fortsetzung durch energische, mit Schimpfworten reichlich gespickte Einsprache. Die erschrockene Alte raffte ihren Teppich zusammen und verschwand in der Thür, aus der sie getreten war.

      Diesen Zwischenfall benutzte Brand, um sich aus dem Hause und aus der Nähe seiner groben Beherrscherin zu stehlen. Diese Person nach Sophie Müller zu fragen, widerte ihn an. Diese Person schien ihm so recht fähig, alle möglichen infamen Schlüsse aus der einfachen Erkundigung zu ziehen: »Wohnt hier Frau Major von Müller, und ist sie zu Hause?«

      Nein, er wollte nicht fragen, er wollte warten; geduldig, mehr als geduldig, mit dem Wunsche sogar, sie möge noch nicht kommen. Ihr Anblick wird ihm eine große Gemütsbewegung verursachen. Er hatte sich das kaum eingestanden, als er sich auch sofort ins Gebet nahm. Und was weiter? Hat er eine feige Scheu vor Gemütsbewegungen? Ist es so weit mit ihm gekommen in dem Schlaraffenleben, das er führt, und vergißt er vor lauter Erziehen an Anderen die Erziehung seiner selbst? Gemütsbewegung, ja – es wird eine sein, und er wird sie aushalten.

      Nach langem Auf- und Abgehen blieb er in der Nähe des Thores stehen. Unaufhörlich strömte der Regen nieder, Brand nahm sich unter den acht Wasserfäden, die von seinem Schirm herunterliefen, wie ein steinerner Wassergott aus. Es wurde halb Elf. Sie kommt nicht, das Wetter ist zu schlecht, dachte er und – wartete weiter, obwohl er recht gut merkte, daß er schon die Aufmerksamkeit einiger Schuhmacher erregt hatte, die an einem Fenster des gegenüber liegenden Hauses arbeiteten.

      Zu jeder anderen Zeit würde er hingegangen sein und die jungen Leute gefragt haben, was sie zu gaffen und zu kichern hätten? Ob die Beobachtung der Passanten oder das Verfertigen von Schuhen ihre Pflicht und ihr Geschäft sei? Jetzt aber ließ er die Tröpfe ungehindert in dem Pfuhl ihrer Nichtsnutzigkeit versinken und blieb auf seinem Posten, bis die Uhr des nächsten Kirchthurms Elf schlug und der letzte Schein von Hoffnung, der noch in ihm glimmte, erlosch.

      Und gerade in dem Augenblick, in dem er jede Hoffnung aufgegeben hatte, wurde sie erfüllt. Er war noch einige Schritte hinauf bis an das Thor von Nummer 21 gegangen, da war ihm, als ob er zurückgezogen würde an unsichtbaren, aber starken Fäden. Etwas Geheimnißvolles, nie Empfundenes zwang, ja zwang ihn, sich umzuwenden.

      Da trat sie aus dem Hause. Er erkannte sie sogleich. Wie zögernd blieb sie ein paar Sekunden vor dem kleinen Wasserreservoir stehen, das sich zwischen der Schwelle und dem Trottoir gebildet hatte, sah zum trostlos grauen Himmel hinauf, öffnete rasch ihren Schirm, hob sich auf die Fußspitzen und schritt eilig und entschlossen des Weges.

      Brand folgte ihr anfangs aus einiger Entfernung, dann wagte er sich näher heran, ging auf die andere Seite der Gasse, ging ihr vor, sah ihr ins Gesicht. Sie trug einen kleinen, schwarzen Schleier, hielt die Augen aufmerksam auf das Pflaster gerichtet und suchte die Steine aus, auf welche sie ihre schlanken, schmalen Füße setzte. Sie hatte ihren leichten und entschlossenen Gang, die anmuthig aufrechte Haltung behalten, die ihm so deutlich in der Erinnerung geblieben waren. Sie sah wie ein junges Mädchen aus, und fein und elegant in ihren alten Kleidern. O wie alt, wie abgetragen!

      Brand verlangsamte seine Schritte und ging wieder hinter ihr her; und als ein Lümmel, der ihr entgegen kam, sie beinahe vom Trottoir gestoßen hätte, schob er ihn zur Seite mit solchem Nachdruck und so aggressiver Miene, daß der Mensch ein »Pardon« stammelte und sich davon machte.

      Sie waren am Ziele. Frau von Müller lief mehr als sie ging ins Haus, und Brand dachte daran, heim zu gehen. Aber er that es nicht, er brachte sich nicht fort. Er hatte ja die Möglichkeit, sie noch einmal zu sehen, ihr noch einmal zu folgen, sie vielleicht noch einmal in Schutz zu nehmen vor irgend einem Lümmel und sich dann ein Wort des Dankes von ihr zu verdienen … Daß sie doch in eine große Gefahr gerathen möchte, daß er ihr Leben um den Preis seines eigenen retten und ihr sterbend sagen könnte: »Frau von Müller, jetzt sind wir quitt!«

      Sie war nicht die breite Treppe zum ersten Stockwerk hinaufgestiegen, die links in die Salons führte, sondern die Seitentreppe rechts, über die man zur Privatwohnung Madame Amélies gelangte. Brand hatte sich in den Hof zurückgezogen und beobachtete von dort aus, was unter dem Thorwege vorging. Nach kaum zehn Minuten kam Sophie die kleine Treppe wieder herab. Ihre Wangen waren leicht geröthet, ein heller Ausdruck von Freude verklärte ihr Gesicht. Die angenehme Überraschung, die Brand ihr zugedacht, war gelungen; Madame Amélie hatte ihre Sache gut gemacht.

      Mit großer Raschheit eilte Frau von Müller vorwärts und wäre beinahe an einen großen, breiten, nach der neuesten Mode gekleideten Herrn angeprallt, der plötzlich und ebenfalls sehr rasch aus der Thür der gegenüber liegenden Treppe getreten war. Brand erkannte in ihm das Urbild der vielen Porträts, die das Zimmer seiner Gattin schmückten, den Chef des Hauses, Herrn Eduard Weiß. Das waren seine impertinent blauen, vorgehenden Augen, seine üppigen Backenbärte, die schwellenden Lippen, die – um mit Amélie zu sprechen – unter dem blonden Schnurrbart hervorblinkten, wie rother Mohn ans dem Weizenfelde.

      Er lachte laut auf über den Schrecken, mit dem Sophie vor ihm zurückgefahren war, und sprach, ohne den Hut zu rücken: »Seh’n Sie, da haben Sie’s. Zur Strafe, daß Sie immer vor mir davonlaufen, wirft Sie der Zufall in meine Arme.«

      Sie wendete sich und eilte dem Ausgang zu; Eduard vertrat ihr den Weg:

      »Nein, nein, Sie bleiben! Warum so scheu? Hab’ ich Sie beleidigt, oder fürchten Sie, daß ich Ihnen gefährlich werden könntet Wenn das wäre, schöne Frau, wenn ich das hoffen dürfte« …

      Zärtlich, mit elegischer Gebärde, streckte er die fein behandschuhte Rechte aus, um ihren Arm zu fassen; aber im selben Augenblick legte sich eine nervige Faust auf den seinen, und eine gebieterische Stimme befahl:

      »Platz da, Herr!«

      Betroffen sah Eduard sich um und maß den kleinen, unscheinbaren Mann, der ihn angerufen hatte, mit einem häßlichen, verächtlichen Blicke. Dieser Mann lüftete jetzt СКАЧАТЬ