Название: Die Verstümmelten
Автор: Hermann Ungar
Издательство: Public Domain
Жанр: Зарубежная классика
isbn:
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Franz Polzer sehnte sich nach einem Mitbewohner seines Zimmers, dessen greifbare Gegenwart das Geräusch der feindlichen Einsamkeit schweigen gemacht hätte. Er sehnte sich danach, neben einem Menschen zu schlafen. Er hörte das Bett der Frau Porges unter der Last ihres Körpers knarren und nahm sich vor, sie am Morgen zu bitten, daß sie ihn in ihr Zimmer aufnehme. Er wollte einen Paravent kaufen, der seine Bettstelle von der ihren trennen sollte. Auch er wollte nachts Erholung und Ruhe finden wie sie. Am Morgen verwarf er diese Gedanken. Ihr vertraulicher Blick erschreckte ihn. Er fürchtete, sie würde die wahren Gründe seiner Bitte nicht verstehen. Es schien ihm nicht unwahrscheinlich, daß sie den Anlaß wahrnehmen würde, auf ihn zuzutreten und ihn zu umarmen, wozu sie immer bereit schien. Diese Möglichkeit nahm ihm den Mut. Er richtete den Oberkörper starr auf und streckte ihn, wenn die Witwe eintrat. Zugleich ließ er die Arme schlaff herabhängen. Den Kopf schob er weit zurück. Das war seine wortlose Abwehr.
Auf Polzers Schreibtisch stand eine Schachtel mit Briefpapier. Er war mit niemandem im Briefverkehr und es geschah selten, daß er einen Brief zu schreiben hatte. Aber er hielt es für nötig, auch auf diese Möglichkeit immer gefaßt und vorbereitet zu sein. Nach durchwachten Nächten war es ihm am Morgen oft ein Bedürfnis, die Briefbogen nachzuzählen, und sich in der Gewißheit, daß kein Bogen fehle, zu beruhigen.
Einmal, als er gerade beim Zählen der Bogen war, trat Frau Porges ein. Sie brachte das Frühstück. Sie sah Polzer wortlos an. Ihm war, als hätte sie ihn bei einer schmählichen Handlungsweise ertappt. Zugleich verstimmte ihn, daß sie nun bei ihm eintrat, ohne zu pochen.
»Sie haben nicht gepocht, Frau Porges,« sagte er.
Er fühlte, daß er hierdurch seine Situation verschlechtert habe.
»Herr Polzer,« sagte Frau Porges, »ich weiß es schon seit langem. Sie gehen darauf aus, mich zu beleidigen. So etwas ist mir noch nie widerfahren. Es wird das Beste sein, wenn wir auseinandergehen.«
Sie zürnte ihm und trat näher. Er wich gegen das Fenster zurück. »Sie wissen,« sagte sie, »daß niemand außer mir das Zimmer betritt. Sie glauben, daß ich stehle! Ich werde einen Mieter finden, der mehr Vertrauen zu mir hat.«
»Frau Porges,« sagte Franz Polzer und er war sehr erschrocken. »Frau Porges, das darf Ihr Ernst nicht sein. Wenn es Ihnen lästig fällt, an die Tür zu pochen, pochen Sie nicht, Frau Porges. Treten Sie ein, ohne zu pochen! Aber mich aus der Wohnung weisen, Frau Porges, das sollen Sie nicht! Sie wissen, daß die Schränke voll sind mit meinen Sachen. Ich habe die Übersicht verloren. Wie soll ich sie fortschaffen? Wohin soll ich sie schaffen? Wo finde ich ehrliche Leute ohne Kinder, Frau Porges? Ich könnte nur am Sonntag ziehen. Wer trägt mir am Sonntag die Koffer? Alles ist undurchführbar. Fremden Leuten wollen Sie mich doch nicht ausliefern, Frau Porges! Es ist undurchführbar, Frau Porges, undurchführbar!«
»Sie zählen Ihre Sachen nach und glauben, daß ich von Ihrem Briefpapier nehme. Ich bin wohl arm, Herr Polzer, aber daß ich mich an fremdem Eigentum vergreife, das doch nicht, Herr Polzer, das denn doch nicht!«
»Ich habe nie daran gezweifelt, Frau Porges,« sagte er.
Sie trocknete mit dem Taschentuch ihre Augen.
»Setzen Sie sich, Frau Porges,« sagte Polzer, »setzen Sie sich. Glauben Sie mir, ich verdächtige Sie nicht! Ich habe gegen niemanden Verdacht. Es ist eine Gewohnheit von mir, alles zu zählen, Frau Porges, eine Bankgewohnheit, nichts anderes, glauben Sie mir!«
Frau Porges hatte sich gesetzt. Sie verzieh Polzer unter Tränen. Es war zwanzig Minuten vor acht. Frau Porges geriet in immer größere Erregung. Sie bemitleidete sich wegen ihrer Einsamkeit und klagte bewegt, daß eine arme Witwe schutzlos allen Beleidigungen ausgesetzt sei. Ihre weiche Rührung war groß. Polzer blickte unruhig nach der Uhr. Es war kurz vor dreiviertel. Er machte Frau Porges darauf aufmerksam. Sie aber in ihrer außerordentlichen Erregung hielt das für unwichtig.
»Sie werden heute etwas später kommen,« sagte sie. »Sehen Sie doch, in welcher Erregung ich mich befinde! Kann ich nicht daraufzählen, von Ihnen in meiner Verlassenheit getröstet und gestützt zu werden?«
»Darauf können Sie zählen, Frau Porges,« sagte Polzer.
»Kann ich das?«
Sie lächelte und wollte sich erheben.
Polzer richtete sich starr auf.
Da schlug die Uhr dreiviertel. Frau Porges sagte noch etwas, aber Polzer hörte es nicht mehr. Er eilte fort und kam auch diesmal noch rechtzeitig in die Bank.
Als am Abend Frau Porges bei Polzer eintrat, schien es ihm, als wollte sie das Gespräch fortsetzen. Polzer hob den Blick nicht von der Zeitung. Sie ging wieder, und Polzer bemerkte zum erstenmal, daß in ihren Augen etwas Feindliches, Böses sei. Ihr Blick beunruhigte ihn noch nachts, als er im Bett lag.
Polzer konnte in diesem Sommer nicht wie sonst am Sonntagnachmittag seinen Spaziergang zum Kai machen. Er liebte diesen Spaziergang sehr. Der Fluß war voll von badenden und schwimmenden Menschen, Ruderbooten und den Dampfern der Ausflügler. Von den Inseln klang das Konzert der Militärmusik. Polzer schritt zwischen Familien und einzelnen Spaziergängern. Selten traf er ein ganz unbekanntes Gesicht, manchmal Leute aus der Gasse, in der er wohnte, einen Herrn aus der Bank oder dem Café. Er ging langsam und sah seine Schuhe in der Sonne glänzen. Er trat vorsichtig auf, um sie nicht zu beschmutzen. Aus Angst vor Dieben hielt er die Hände auf dem Rücken gekreuzt, über der Tasche, in der er die Brieftasche trug. Manchmal fühlte er sich betroffen, wenn er einen Blick auf sich ruhen fühlte. Rasch sah er an seinem Anzug hinunter, sich zu vergewissern, daß alle Knöpfe geschlossen seien. Das Bewußtsein, daß sein Anzug nicht nach der Mode geschnitten sei, bedrückte ihn. Er konnte nicht hindern, daß er Aufmerksamkeit errege. Besonders Kinder und halbwüchsige Mädchen schienen ihm gefährlich, und ihnen wich er vorsichtig aus. Bis zum Theater schritt er in der Sonne. Dann bog er in die Stadt ab und ging ins Café.
Die Spaziergänge unterblieben nun, da am Sonntag gleich nach dem Mittagessen Frau Porges in ihrem schwarzen Sonntagskleid bei ihm eintrat. Mit ihr auf den Kai zu gehen, unter die vielen Menschen, schien ihm unmöglich. Zudem wohnte auch Karl Fanta am Kai, und er mußte unter seinen Fenstern vorbei. Die Erinnerung an Kuchelbad war zu lebendig, als daß er hätte einen Ausflug mit Frau Porges unternehmen wollen. Es blieb nichts übrig, als mit Frau Porges ins Café zu gehen. Er saß mit ihr an dem kleinen Tisch im Billardsaal.
Die Studenten stellten die langen Queues zu Boden, als Polzer zum erstenmal mit Frau Porges eintrat, und sahen Frau Porges an. Polzer verbarg sich hinter der Zeitung. Frau Porges wollte sprechen, allein Polzer schwieg. Er fühlte, daß sie von allen Seiten beobachtet würden, und fürchtete, man könnte an den Nebentischen das Gespräch hören.
Er war zum drittenmal mit Frau Porges im Café, als sich ein Student an den Tisch setzte. Frau Porges hatte ihn in der Straßenbahn kennengelernt. Er war groß und schmal, hatte blondes Haar und einen leisen Bartanflug.
Frau Porges unterhielt sich angeregt mit ihm. Sie lachte viel und laut. Polzer sah den Billardspielern zu und beteiligte sich am Gespräch nicht. Er hätte Frau Porges gerne gebeten, ihr Lachen zu dämpfen, fand aber nicht Gelegenheit, es zu sagen. Die beiden sprachen miteinander und beachteten Polzer nicht. Der Student begleitete Frau Porges auf dem Heimweg bis an die Haustür. Hier erst verabschiedete er sich.
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