Название: Handbuch des Strafrechts
Автор: Bernd Heinrich
Издательство: Bookwire
isbn: 9783811456655
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Bei solch einer Systematik wird deutlich, dass sich die (auch aufgrund ihres Umfangs) komplex anmutende Definitionsvorschrift im Kern auf die materiell-rechtliche Eingangsdefinition in Abs. 1 reduzieren lässt. Die rechtliche Einordnung steht und fällt mit der Frage, ob der Stoff unter eines der beiden Arzneimittelbegriffe (Präsentations- oder Funktionsarzneimittel) subsumiert werden kann.
aa) Präsentationsarzneimittel
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§ 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG erfasst Produkte, deren Einordnung als Arzneimittel intendiert zu sein scheint. Aus der Perspektive des Rechtsanwenders handelt es sich also um mehr oder weniger eindeutige Fälle, also um Arzneimittel auf dem „Präsentierteller“. Ihre demnach passende Bezeichnung als „Präsentationsarzneimittel“ ist auch im Übrigen wörtlich zu nehmen: Gemeint sind alle Produkte mit therapeutischer oder prophylaktischer Zweckbestimmung, wobei entscheidend ist, dass diese Zweckbestimmung (ggf. auch durch schlüssiges Verhalten) nach außen tritt, also ein Durchschnittsverbraucher aufgrund der Darstellung von einer Arzneimittelqualität des Stoffes bzw. Produkts ausgehen kann.[27]
bb) Funktionsarzneimittel
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Wesentlich problematischer erscheint die Auslegung der Nr. 2, welche aufgrund ihrer offenen Wendung (insbesondere der fehlenden tatbestandlichen Anknüpfung an eine irgendwie geartete Zweckbestimmung) jeden Stoff erfasst, der eine pharmakologische Wirkung aufweist, mithin die tatsächliche Funktion des Stoffes als schmerzlindernd bzw. Therapeutikum nicht konstitutiv zu sein scheint. Anknüpfungspunkt für solch eine Betrachtungsweise war die terminologische Entwicklung des Funktionsarzneimittelbegriffs auf europäischer Ebene: in der Änderungsrichtlinie 2004/27/EG wurde auf den Passus „dazu bestimmt“ verzichtet, was teilweise als Verobjektivierung des Arzneimittelbegriffs gedeutet wurde.[28] Doch bereits der Umstand, dass das Grundkonzept beibehalten wurde und somit auch beim Begriff des „Funktionsarzneimittels“ festgehalten wurde, deutete auf das Gegenteil hin.[29] Der EuGH hat diesbezüglich seit jeher die Auffassung vertreten, dass § 2 Abs. 1 Nr. 2 AMG keine allgemeine Auffangfunktion, sondern solch eine speziell in Bezug auf § 2 Abs. 1 Nr. 1 AMG entfaltet, mithin Fälle erfasst, in denen sich eine Zweckbestimmung nicht objektiv manifestiert, allerdings das Präparat pharmakologische Eigenschaften aufweist, Krankheiten zu heilen, lindern oder zu verhüten.[30] An dieser Auffassung hat es auch nach der Änderungslinie festgehalten: Dem Präparat muss also im Hinblick auf seine Wirkweisen (nicht aufgrund seiner Präsentation) objektiv eine physiologische Hauptfunktion zugeschrieben werden können.[31]
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Daraus ergibt sich zugleich das Verhältnis der beiden Arzneimittelkategorien zueinander: Hinsichtlich Präsentationsarzneimitteln mit tatsächlich pharmakologischer Wirkung ist Nr. 1 lex specialis gegenüber Nr. 2 (mithin ist das Präsentationsarzneimittel eine besondere Form des Funktionsarzneimittels). Fehlt es an der ausdrücklichen bzw. konkludenten Bestimmung, ist zu ermitteln, ob der Stoff zumindest pharmakologisch wirkt und diese Wirkung therapeutischer bzw. prophylaktischer Natur ist bzw. eine anderweitige, nicht therapeutische bzw. prophylaktische Hauptfunktion erkennbar ist. Bejahendenfalls kommt die Auffangfunktion des Nr. 2 zum Tragen; verneinendenfalls kommt umgekehrt wiederum eine exklusive Anwendung der Nr. 1 in Betracht, wenn solch eine Wirkung zumindest vorgegeben wird (Anscheinsarzneimittel).
b) Arzneimitteldefinition und Arzneimittelstrafrecht
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Die sehr knappe Darstellung lässt bereits vermuten, dass die Erläuterungen der Arzneimitteldefinition als „Schlüsselbegriff“ des gesamten (auch internationalen) Arzneimittel- und sonstigen Pharma- sowie Stoffrechts nicht einmal im Ansatz gerecht werden. Doch gelten diesbezüglich für eine isoliert-strafrechtliche Darstellung die einleitenden Erwägungen zur strafrechtspraktischen Relevanz des äußerst umfangreichen und an seinen Rändern unscharfen Arzneimittelbegriffs sinngemäß (Rn. 3). Strafrechtliche Relevanz hat die Bestimmung des Arzneimittelbegriffs nur dort, wo ein Verfolgungsimpetus besteht. Dieser setzt wiederum eine besonders rigide Einstellung und Verfolgungsbereitschaft der Behörden voraus, welche indessen nur bei denjenigen Substanzen vorliegt, deren Konsum man dem Einzelnen vorenthalten will, mithin bei berauschenden, giftigen oder sonst irgendwie als „gefährlich“ eingeordneten Stoffen. Damit haben die im Kontext des § 2 AMG seit jeher umstrittenen Fragen der Abgrenzung von (nicht zulassungspflichtigen) Lebensmitteln, Lifestyleprodukten und Kosmetika zu Arzneimitteln keinen Platz im Strafrecht und einer ausführlichen Darstellung der umfangreichen Kasuistik bedarf es nicht.[32] Anderes gilt für das Verhältnis von Arzneimitteln zu Rauschgift, Betäubungsmitteln, Grundstoffen sowie sonstigen Giften; diesbezüglich wird auf die Ausführungen zum Begriff des Betäubungsmittels und seiner Überforderung bei neuen psychoaktiven Substanzen (→ BT Bd. 6: Oğlakcıoğlu, § 54 Rn. 40) verwiesen.
2. Tathandlungen: Inverkehrbringen und Abgabe
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Anders als im Betäubungsmittelstrafrecht stellt im Arzneimittelstrafrecht das Inverkehrbringen die zentrale Tathandlung dar, da sie – ähnlich wie das Handeltreiben, aber qua definitionem (§ 4 Abs. 17 AMG) und damit abgeschlossen – einen Katalog von Verhaltensweisen umfasst, welche darauf ausgerichtet sind, ein Arzneimittel zu vertreiben.[33] Das Inverkehrbringen erfasst also – anders als in anderen Nebenstrafrechtsgebieten – nicht jedes gleich wie geartete Eröffnen der Möglichkeit des Erlangens der tatsächlichen Verfügungsmacht, sondern beschränkt sich auf die in § 4 Abs. 17 AMG genannte Aufzählung (Vorrätighalten zum Verkauf oder zu sonstiger Abgabe, das Feilhalten, das Feilbieten und die Abgabe an andere).[34] Die Abgabe taucht als „ausgeklammerte“ Handlung in zahlreichen weiteren Bezugsvorschriften auf und ist somit die häufigste Tathandlung im AMG. Diese wird allerdings genauso interpretiert wie im Betäubungsmittelstrafrecht, erfasst also die (einvernehmliche, nicht notwendig entgeltliche) Übertragung der Verfügungsmacht an Dritte.[35]
IV. (Europäische) Rechtsquellen des Arzneimittel(straf)rechts
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Anders als bei Betäubungsmitteln, besteht bei Arzneien ein Interesse daran, die grenzüberschreitende Versorgung innerhalb der Gemeinschaft zu gewährleisten und hierbei auch einen einheitlichen Standard hinsichtlich der Herstellung, Prüfung und des Vertriebs von Medikamenten herzustellen. Mehr als jede andere Rechtsmaterie in Deutschland, die den Umgang mit Stoffen zum Gegenstand hat, geht das Arzneimittelrecht auf europäische Rechtsakte zurück, welche nicht nur kontinuierlich Änderungen der lex lata herausfordern, sondern auch unmittelbar die Auslegung konkreter Rechtsbegriffe beeinflussen.[36]
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Die Änderungsgesetze, ihr europarechtlicher Ursprung bzw. ihre Bezugsakte und ihre Auswirkungen auf die Straftatbestände der §§ 95 ff. AMG seien in folgender Tabelle zusammengefasst:
Änderungsgesetz | Europarechtlicher Rechtssetzungsakt |
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