Doch Piet besaß in erster Linie ein großes Herz für Kinder und hatte das Mädchen großmütig akzeptiert, auch wenn ihm das nicht immer leicht gefallen war. Für Unternehmungen jeder Art hielt er sich allerdings dann doch lieber an seine eigenen beiden Kinder Mark und Maja. Das waren nicht so überempfindliche Fabelwesen. Freilich hatte es Lena nicht leicht gehabt, als ihre Mutter sang und klanglos verschwand. Aber musste man ihr deswegen ihr ganzes Leben lang alles nachsehen, was sie tat?
»Piet, sieh mal: Lena ist schon so lange wir sie kennen gehemmt und ängstlich, hat sich am liebsten zurückgezogen. Sie kommt doch in der Welt da draußen überhaupt nicht zurecht. Was, wenn ihr jemand etwas antut? So wie sie jetzt herumläuft, kann werweiß-was passieren. Und dann auch noch im Ausland …! Glaubst du, sie ist krank? Psychisch, meine ich? Sie hat krank ausgesehen, als sie an diesem Abend nach Hause gekommen ist, nach welchem sie so verändert war, das hast du doch selbst gesehen!« Bei diesen Worten liefen Meike schon wieder die Tränen hinunter.
Piet war kein Unmensch. Er hielt mit seinen großen Arbeiterhänden die Schultern seiner Frau fest, drückte sie und sagte in versöhnlichem Ton: »Dann geh halt am Montag mal zu Dr. Berner. Der kennt sie schon fast ihr ganzes Leben lang. Frag ihn, was er dazu meint. Bloß – machen kann man im Moment so oder so nichts, damit musst du dich abfinden!« Damit war für Piet Keller die Angelegenheit erledigt. Wenn man ein Problem hatte, fand man eine Lösung, und dann dachte man vorläufig nicht mehr darüber nach. Basta.
Für Meike hingegen war es nicht ganz so einfach, den Schalter umzulegen und wieder einen auf fröhliche Mama und Ehefrau zu machen. Die Angst nagte an ihrem Herzen, denn es gab etwas, das sie Piet bislang verschwieg. Krank vor Kummer und Sorge hatte sie in das kleine, blaue Handtäschchen gesehen, das Lena an jenem Abend am Strand dabei gehabt hatte; sie schob ihr schlechtes Gewissen mit der Hoffnung beiseite, eine akzeptable Begründung für Lenas merkwürdige Veränderung zu finden.
Die handliche Tasche war mit mehreren Tablettenschachteln vollgestopft gewesen, eine davon leer. Meike verstand nicht viel von Arzneimittelkunde, doch wusste sie natürlich ganz genau, was sie hier vor sich hatte: Schlafmittel und andere Psychopharmaka, die man in solchen Mengen eigentlich nur dann hortete, wenn man … Wie konnte das Kind nur sein Leben wegwerfen wollen? Meike folgte Piets Rat und eilte am Montagabend gleich nach dem Dienst zu Dr. Berners Praxis, die im ersten Stock eines ansehnlich renovierten Altbaus in der Innenstadt lag. Als sie an der Türe der Praxis klingelte, öffnete zunächst niemand. Zwei Minuten später allerdings kamen die beiden Sprechstundenhilfen schwatzend heraus, schon fertig angezogen in Mänteln und Stiefeln, um ihren verdienten Feierabend anzutreten. Die beiden sahen nicht gerade begeistert drein, als sie die späte Patientin im Treppenhaus bemerkten.
»Oh, hallo Frau Keller! Also, tut mir leid, aber wir haben eigentlich schon geschlossen!«, bemerkte die Ältere in vorwurfsvollem Ton. »Wenn etwas Dringendes ist, Sie wissen ja, die Bereitschaft im Medizinischen Zentrum hat noch geöffnet!« Damit wollten die beiden verschwinden und Meike ihrem Schicksal überlassen.
»Aber ich will mich doch gar nicht behandeln lassen! Ich müsste nur kurz mit Heinrich, ich meine, Dr. Berner sprechen. Und das ist wirklich eilig!« Meike konnte durchaus energisch werden, wenn es sein musste. Wenn man sich nicht durchsetzen konnte, war man heutzutage als Kindergärtnerin verloren. Sie kannte Kolleginnen, die sich bereits schwer taten, mit Vierjährigen fertig zu werden. Die Arzthelferin verdrehte die Augen in Richtung der zartgelben Stuckdecke, sperrte dann aber seufzend die schwere Holztür der Praxis wieder auf. »Ich sehe mal nach, ob ich ihn stören kann! Warten Sie hier einen Moment.«
Die Holzdielen der Praxis knarrten, als sich jemand mit schnellem Schritt der Eingangstüre näherte. Es war ihr Jugendfreund Heinrich, der erfreut heraneilte und sie in sein Sprechzimmer bat. Meike fühlte sich bei diesem Arzt gut aufgehoben, seit er gleich nach dem Medizinstudium diese Arztpraxis eröffnet hatte. Ihre ganze Familie war niemals woanders hingegangen, wenn ärztlicher Rat von Nöten war. Bei Heinrich handelte es sich um einen Menschen, dem man vorbehaltlos vertrauen konnte. Meike und er waren dick befreundet gewesen, bis sich ihre Wege wegen der Schullaufbahn trennten. Obwohl auch Meike mit ihren guten Noten ins Gymnasium hätte gehen können, beschlossen ihre Eltern, dass für ein Mädchen die Realschule gut genug wäre. Meike würde ja irgendwann sowieso heiraten und ein Studium wäre der Familie bei weitem zu teuer gekommen.
So kam es, dass Heinrich weitgehend aus Meikes Leben verschwand. Dr. Heinrich Berner heiratete die schöne Anna, die ihm schon lange nachgelaufen war und mit Nachdruck sowie allen Mitteln das Ziel verfolgte, Frau Doktor zu werden. Meike schloss aus Heinrichs Wahl, dass sie selbst bei ihm bestimmt sowieso nie eine Chance gehabt hätte, auch wenn sie ihm damals ins Gymnasium gefolgt wäre.
Anna bot optisch das glatte Gegenteil, war groß, schlank, attraktiv und überaus blond. Leider hatte sie auch einen gegenteiligen Charakter. Diese Frau wurde von Ehrgeiz, Egoismus und Oberflächlichkeit getrieben, Meike dagegen galt als warmherzige, liebenswürdige Mama. Wenn die Kinder glücklich waren, so war sie es auch. Da brauchte es weder Shopping, noch Partys.
Ab und zu traf man sich später zufällig bei Kinobesuchen, in der Fußgängerzone oder beim Elternabend auf dem Flur des örtlichen Gymnasiums, denn Heinrichs Sohn Max besuchte dieselbe Schule wie Lena. Alle drei Söhne waren bei Meike in der Kindergartengruppe gewesen. Und jedes Mal fragte sich Heinrich wider Willen, ob er wirklich die richtige Wahl getroffen hatte; Meike war ein Mensch aus Fleisch und Blut, besaß ein Herz. Anna? Die war eine meist übel gelaunte Puppe. Wenn man Dr. Heinrich Berner gefragt hätte, was seine Frau am besten könne, hätte er geantwortet: Kreditkarten benutzen.
Es war viel zu spät für solche Gedanken. Meike hatte Piet und der war zwar einfach strukturiert, das hatte Heinrich gleich gemerkt, aber gleichwohl ein treuer, zuverlässiger Ehemann. Er selbst war Vater von drei Söhnen, auch Meike hatte drei Kinder, Lena mitgerechnet. Viel zu spät, leider.
»Ja Meike, welch Glanz in meiner bescheidenen Hütte! Lange nicht gesehen, was verschafft mir die Ehre?« Dr. Berner rückte seiner Jugendfreundin eilfertig einen bequemen Sessel zurecht, setzte sich ihr gegenüber. Mit Meike ein paar freundschaftliche Worte wechseln zu können war allemal besser, als sofort nach Hause in Annas unterkühlten Dunstkreis fahren zu müssen.
»Heinrich, es tut mir leid, dich so spät noch zu stören. Aber ich weiß mir einfach nicht mehr zu helfen und brauche deinen Rat. Du kennst Lena doch auch schon ewig. Wie oft waren wir hier gesessen und haben darüber gesprochen, wie dünn ihr Nervenkostüm ist und wie schwer für sie immer noch die Verarbeitung des Traumas mit ihrer Mutter zu sein scheint. Wahrscheinlich glaubst du mir gar nicht, wenn ich dir jetzt sage, dass sich ihr Wesen ins genaue Gegenteil verkehrt hat. Innerhalb eines einzigen Tages verwandelte sie sich von unserer unnahbaren, zurückgezogenen Lena in … ja, ich weiß auch nicht. Rennt jedenfalls offenher zig herum, redet, als käme sie aus der Bronx. Und dann ist sie abgehauen! Einfach so, plünderte ihr Sparkonto und meinte, sie werde jetzt endlich leben, fliege jetzt erst einmal nach Spanien. Man konnte überhaupt nicht mehr normal mit ihr sprechen!« Dr. Berner sah tatsächlich ungläubig drein. »Natürlich glaube ich dir, Meike! Warum sollte ich nicht? Du bist ein vollkommen bodenständiger Mensch und eine gute Beobachterin, schon berufsbedingt. Aber sag mal – wir reden hier echt von DIESER Lena? Und ihre Verwandlung vollzog sich wirklich innerhalb eines Tages, nicht schrittweise, sagst du?«
»Genau, das ist es ja! Ich habe Angst bekommen, dass ihr irgendetwas passiert ist, dass sie womöglich an eine Sekte oder in falsche Gesellschaft geraten ist. Die ist doch solch ein Schaf und vermutet bei niemandem etwas Böses. Also habe ich … habe ich in ihre Handtasche gesehen, die sie an jenem Abend dabei gehabt hatte. Nicht, dass ich sonst so was mache, aber ich musste doch …!«
»Meike, jetzt mach dir bloß deswegen keine Vorwürfe! Schau, du meinst es schließlich nur gut. Du hast ja Recht, irgendetwas muss passiert sein. СКАЧАТЬ