Название: Der Stoff, aus dem die Helden sind
Автор: Jürgen Kalwa
Издательство: Bookwire
Жанр: Сделай Сам
isbn: 9783964230799
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Was Minkmar zu der Anmerkung veranlasste: Es möge „besonders schwer auszuhalten“ sein, dass „Helden eine Schwäche haben, dunkle Charakterzüge, seltsame Ansichten oder gar schuldig wurden“. Man könne allerdings deshalb nicht einfach dafür plädieren, dass „auf den glatten Bildschirmen der digitalen Moderne“ immer „alles makellos erscheinen“ soll. Auf diese Weise „verrennt sich die Moral in den Bereich der Ästhetik: Die Schönen sollen gut sein und vice versa.“22
Was Gesellschaftswissenschaftler nicht überrascht. So hat der Freiburger Soziologe Prof. Dr. Ulrich Bröckling 2020 im Deutschlandfunk in einem Interview auf Folgendes hingewiesen23: „Der Sport verbindet etwas, was auch für Heldenfiguren ganz grundsätzlich ist: dieses Moment des Kämpferischen, des Sich-auszeichnen-Wollens, der außerordentlichen Leistung. Das alles bietet der Sport. Er bietet spannende Inszenierungen von Kämpfen, von Wettkämpfen. Und gleichzeitig ist es etwas, was politisch nicht so brisant oder moralisch so verwerflich ist wie militärisches Heldentum.“
Und das funktioniert so, wie Karl-Heinrich Bette in Sporthelden: Spitzensport in postheroischen Zeiten schreibt: „Der Spitzensport ist ein Sozialbereich, der real existierende Figuren der Außeralltäglichkeit“ in einer unterhaltsamen und sozial harmlosen Weise und im Kontrast zu anderen Teilen des Lebens hervorbringt. Dort, in diesen anderen Teilen des Lebens, habe die Marginalisierung traditioneller Heldenfiguren „eine Lücke hinterlassen, in die der Sport mit seiner Personen- und Körperorientierung, seiner Sichtbarkeit und Theatralität, seinen agonalen Konfliktinszenierungen, der Serialität seiner Ereignisse und seinen Stellvertretungsofferten mit Erfolg hineinstoßen konnte.“24
Die Wechselwirkung kommt folgendermaßen zustande: Einerseits existiert, so Bette, eine weltweit gestiegene Nachfrage „nach spannenden, heroischen, affektiv aufgeladenen, gemeinschaftsstiftenden, personen- und körperorientierten Sportleistungen durch ein interessiertes Massenpublikum“. Andererseits gebe es „Kollateralwirkungen des gesellschaftlichen Wandels“. Zu denen gehören seiner Auffassung nach unter anderem solche Entwicklungen wie Körperdistanzierung, Gemeinschaftsverlust, Beschleunigung und „biografische Diskontinuität“. Der Spitzensport bediene damit und mit seinen Heldeninszenierungen „in einer klamm-heimlich-kritischen Weise die ausgeprägte Ambivalenz der Moderne“.
Eine Ambivalenz, die die COVID-Pandemie noch deutlicher herauskristallisiert hat. Mit einem „weniger heroischen, professionellen Typ von Athleten“ wie der amerikanische Sportjournalist und Buchautor Howard Bryant unlängst schrieb. Er meinte prominente Vakzin-Verweigerer wie Novak Djokovic, Aaron Rodgers und Kyrie Irving. Die seien „ganz sich selbst verpflichtet, unbelastet von der Gemeinschaft oder der Verantwortung für andere“ und benutzen die sozialen Medien „um Pseudowissenschaft zu verbreiten und sich selbst zu profilieren und abzusetzen.“ Deren Botschaft an den Rest der Welt: „Sie schulden uns gar nichts, weil sie soviel erschaffen: Einnahmen und Vermächtnis für die Männer in Anzügen. Spaßkultur für die Zuschauer und wirtschaftliche Sicherheit für ihre Familien.“25
Mit Stoff ist in diesem Zusammenhang übrigens keine einzelne Materie gemeint. Und keine fixe Größe. Der Begriff ist nicht minder ambivalent. Er dient vor allem als Inspiration und Gedankenstütze beim Brückenschlag zwischen Hauptkapiteln und innerhalb dieser Kapitel.
Es geht schließlich um unterschiedliche stoffliche Dimensionen: um Rohstoff und Wirkstoff, Farbstoff, Klebstoff und Schadstoff, natürlich auch um Lesestoff und Gesprächsstoff und sicher auch Lehrstoff und Zündstoff. Um unterschiedliche Idiome und Substanzen, in denen viele Fasern, Farben und Facetten aufgehen. Dinge wie Geld und Kommerz, wie Doping, Religion und Politik, wie Vermarktung und Narzissmus, wie Hautfarbe, Missbrauch und Nostalgie. Eigenschaften wie Mut und mentale Stärke, Arbeitsethos und Risikobereitschaft, genetische Vorprägung und Hybris. Empfindungen wie Agonie oder Teamgeist, aber auch so etwas Fundamentales wie pure Begeisterung für die Sache. Etwas, was ich im Laufe der Zeit aus Begegnungen und ausführlichen Gesprächen mit knapp 200 Aktiven, Trainern, Betreuern, aber auch mit Historikern, Wirtschaftswissenschaftlern, Psychologen und Juristen herausdestillieren konnte.
Ein solches Kompendium kann am Ende nicht mehr sein als eine Auswahl, subjektiv und voller Besonderheiten und Eigenheiten. Sie deckt immerhin eine Zeitspanne von knapp dreißig Jahren ab und ist aus nachvollziehbaren Gründen vom geographischen Standort des Autors geprägt. Was im Kontext des internationalen Sports aber keineswegs ein schiefes Bild erzeugt. Denn nach der kreativen Phase im viktorianischen Großbritannien, als die Feudalgesellschaft einer Weltmacht die Kodifizierung und Popularisierung von einer ganzen Reihe von Sportarten vorantrieb, übernahmen die USA im 20. Jahrhundert eine treibende Rolle. Ihre Beimischung, die konsequente Ausrichtung auf Kommerz, Profitmaximierung und eine intensive Mythologisierung, markiert so etwas wie die zweite wichtige Phase eines globalen Ideentransfers im organisierten Sport in alle Teile der Welt.
Man denke nur an die Ruhmeshallen und Sportmuseen. Sie wurden zunächst in den Vereinigten Staaten entwickelt, aber haben mittlerweile auch in anderen Ländern Schule gemacht26. Oder an die wachsende Bedeutung amerikanischer Sportausrüster bei der Inszenierung und Vermarktung von Sport27. An den neuen Statistikwahn.28 An Computerspiele. Oder auch den Kampf gegen Doping, Korruption und sexuellen Missbrauch. Fast überall zeigen amerikanische Akteure seit mehreren Jahren modellhaft auf, wohin die Reise geht. Der Rest der Welt folgt je nach Ressourcen und eigenen Ambitionen irgendwann nach.
Was den Charakter der Texte anbetrifft: Sie nutzen den Formenreichtum, den wir in der alltäglichen journalistischen Arbeit kennen. Es handelt sich hierbei um Reportagen und Stimmungsbilder, um essayistische Betrachtungen sowie um Protokolle von ausführlichen Interviews mit profilierten Gesprächspartnern, die pointiert und substanziell zum jeweiligen Thema Auskunft geben.
Niemanden sollte überraschen, dass man als Journalist im Laufe der Zeit einiges aus dieser Stoff-Sammlung bereits publiziert hat: in meinem Fall in Medien wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, den drei Programmen von Deutschlandradio, den nicht mehr existierenden Zeitschriften Sports und No Sports (nicht verwandt und nicht verschwägert miteinander), dem Sportmagazin der Schweizer Illustrierten sowie mehreren Büchern.
Um der zeitlichen Einordnung Rechnung zu tragen, erschien es angebracht, die Texte mit Angaben zu dem Jahr zu versehen, in dem sie entstanden sind oder in wesentlichen Passagen entwickelt wurden. Was aus den zentralen Figuren in der Zeit danach geworden ist, wird dort, wo es angebracht schien, in einem kurzen Anhang hinzugefügt.
Das Buch enthält daneben aber auch Texte, die bislang nicht erschienen sind. Und solche, die eigens für dieses Buch geschrieben wurden.
Natürlich reist stets eine Hoffnung mit: dass eine solche Anthologie auf mehr neugierig machen könnte. Deshalb an dieser Stelle noch ein Hinweis auf drei Bücher. Aus zweien habe ich für dieses Projekt jeweils eine längere Passage übernommen: Sowohl Tiger Woods. Charisma für Millionen29 als auch Nichts als die Wahrheit. Der Fall Lance Armstrong und die Aufarbeitung eines der größten Betrugsskandale in der Geschichte des Sports30 und Dirk Nowitzki. So weit, so gut – von Würzburg zum Weltstar. Eine etwas andere Biographie“31 möchte ich an dieser Stelle gerne als weiterführende Lektüre empfehlen.
In jedem Fall wünsche ich viel Vergnügen auf dieser Tour d’Horizon, und bedanke mich bei allen Weggefährten, die durch ihre Ermunterung, ihre Aufträge, ihr Wohlwollen und ihre Kritik im Laufe der Jahre mein Schaffen ermöglicht СКАЧАТЬ