»Ich komme ja deshalb her«, erwiderte die Tante. »Es geht gegen Mittag ein Zug; ich habe Zeit, ihn zu benutzen.«
»Nein, ich werde erst zu einer späteren Stunde Geld haben«, versetzte Nana, die sich jetzt im Bett aufrichtete und den Hals weit vorreckte. »Du kannst mit mir frühstücken, wir wollen dann sehen.«
Zoé trug einen Frisiermantel herein.
»Madame«, sprach sie leise, »der Friseur ist da.«
Aber Nana hatte keine Lust, in das Toilettenkabinett zu gehen. Sie rief deshalb: »Kommen Sie nur hier herein, Francis!« Ein sauber gekleideter Herr stieß die Tür auf. Er grüßte. Nana war eben aus dem Bett gekrochen und stand barfüßig da. Sie hatte es nicht sonderlich eilig und streckte die Hände vor, damit Zoé die Ösen des Mantels zuheften könne. Und Francis, der sich hier ganz behaglich zu fühlen schien, wartete ruhig, ohne sich umzudrehen. Als sich Nana gesetzt und er den ersten Strich mit dem Kamm durch ihr Haar geführt hatte, begann er zu sprechen.
»Madame hat wohl die Zeitungen noch nicht gelesen? Der ,Figaro' bringt einen ausgezeichneten Artikel.«
Er hatte die betreffende Nummer der Zeitung gekauft. Madame Lerat setzte sich die Brille auf und las, am Fenster stehend, den Artikel laut vor. Ihre Gendarmenfigur reckte sich in die Höhe, die Flügel ihrer Nase weiteten sich, wenn sie ein galantes Adjektivum aus ihrem Munde schnellte. Es war eine Rezension aus Faucherys Feder, die, nach Schluß des Theaters geschrieben, in zwei Spalten glühenden Inhalts die Künstlerin auf geistvolle Weise verhöhnte, das Weib aber in unverblümter Bewunderung verherrlichte.
»Ausgezeichnet!« meinte Francis.
Nana ärgerte sich nicht wenig, daß man sich über ihre Stimme lustig machte. Dieser Fauchery war wirklich ein toller Wicht, aber sie wollte ihm seine schlaue Manier schon austreiben! Madame Lerat erklärte, nachdem sie den Artikel nochmals gelesen hatte, daß die Männer samt und sonders den Teufel in den Waden hätten, und verzichtete, zufrieden über diese Anspielung, auf weitere Erklärungen. Francis hatte inzwischen die Frisur von Nanas Haarputz vollendet und empfahl sich mit den Worten:
»Ich werde die Abendzeitungen aufmerksam durchsehen ... Wie gewöhnlich um halb sechs Uhr heute, nicht wahr?«
»Bringen Sie mir doch eine Büchse Pomade und ein Pfund gebrannte Mandeln von Boissier mit!« rief ihm Nana durch den Salon nach, als er eben die Tür draußen schloß.
Jetzt fiel es den beiden Frauen, als sie sich allein sahen, erst ein, daß sie sich noch gar nicht begrüßt hatten, und sie drückten sich flugs ein paar derbe Küsse auf die Wangen. Der Zeitungsartikel hatte sie warm gemacht. Nana, bisher noch verschlafen, wurde wieder von dem Fieber ihres Triumphs ergriffen. Ah, Rose Mignon mochte einen reizenden Vormittag verleben! Da ihre Tante nicht hatte ins Theater kommen wollen, weil ihr aufregende Szenen, wie sie sagte, immer die Verdauung störten, schickte sich Nana an, ihr den Verlauf des Abends zu erzählen, und berauschte sich an ihren eigenen Schilderungen dermaßen, daß sie fast selber glaubte, ganz Paris sei unter dem Beifallssturm zusammengestürzt. Dann unterbrach sie sich plötzlich und fragte lachend: wer ihr das wohl vorausgesagt hätte, als sie noch in der Rue de la Goutte d'Or als kleines Ding auf dem Hintern herumgerutscht sei. Madame Lerat schüttelte den Kopf. Nein, nein, so etwas hätte man wahrlich nicht voraussehen können! Nun begann die Lerat zu sprechen, nahm eine ernste, würdige Miene an und nannte Nana ihre »liebe Tochter«. Sei sie denn nicht ihre zweite Mutter, seit die rechte mit Papa und Großmama wiedervereinigt war? Nana überkam eine lebhafte Rührung, sie war nahe daran, in Tränen aufzubrechen. Aber Madame Lerat betonte: »Hin ist hin«, und es lasse sich daran nichts ändern, das beste sei, vergangene Dinge nicht tagtäglich aufzurühren. Lange Zeit habe sie es unterlassen, ihre Nichte zu besuchen, denn man klage sie in der Familie an, daß sie sich mit der Kleinen zugrunde richte. Sie verlange durchaus keine vertraulichen Geständnisse, sie glaube schon selbst, daß sie immer ehrbar gelebt habe. Jetzt sei es ihr vollauf genügend, daß sie sie in guten Verhältnissen finde und daß sie sehen könne, mit welcher Liebe sie an ihrem kleinen Sohn hänge. Es gelte doch noch immer in dieser Welt nichts so viel wie Ehrbarkeit und Fleiß.
»Von wem hast du denn eigentlich den Kleinen?« fragte sie, sich plötzlich unterbrechend, während ihre Augen von lebhafter Neugier aufleuchteten.
Nana war überrascht und zögerte eine Sekunde mit der Antwort.
»Von einem Herrn«, meinte sie dann.
»Ah«, sagte die Tante, »man wollte wissen, du hättest ihn von einem Maurer, der dich zum Dank dafür mit Schlägen traktierte ... Na, du wirst es mir schon später einmal noch sagen, du weißt ja, daß ich verschwiegen bin! Warte nur, ich will ihn auch hüten und pflegen, als ob er ein Prinz wäre.«
Madame Lerat hatte ihr Kunstblumengeschäft aufgegeben und lebte jetzt von ihren Ersparnissen, die in einer Rente von ungefähr sechshundert, Sou für Sou gesparten Franken bestanden. Nana versprach, ein recht hübsches kleines Zimmerchen für sie zu mieten, und außerdem wolle sie ihr monatlich hundert Franken bezahlen. Bei dieser Ziffer geriet die alte Tante außer sich und rief ihrer Nichte zu, sie wolle »ihnen die Kehle umdrehen, wenn sie ihr unter die Finger« kämen; sie sprach von den Mannsleuten. Die beiden Weiber umarmten und küßten sich nochmals. Aber Nana schien mitten in ihrer Freude, als die Unterredung wieder auf den kleinen Louis geriet, von einer plötzlichen Erinnerung unangenehm berührt zu werden. »Ist das abscheulich, daß ich um drei Uhr weggehen muß!« sprach sie. »Und wieder zu einem solchen Frondienst!«
In diesem Augenblick gerade trat Zoé ein, um zu melden, daß der Tisch gedeckt sei. Man begab sich nach dem Eßzimmer, wo bereits eine ältere Dame am Tisch saß, die ihren Hut auf dem Kopf behalten hatte; sie trug ein dunkles Kleid von unbestimmter Farbe, ein Mittelding zwischen verdächtigem Braun und Grün. Nana schien über die Gegenwart der Frau nicht im geringsten erstaunt. Sie fragte sie nur, warum sie nicht ins Schlafzimmer gekommen sei.
»Ich hörte Stimmen«, gab die Alte zur Antwort, »und dachte, Sie hätten vielleicht Gesellschaft.«
Madame Maloir, die ein respektables Äußeres und feine Manieren hatte, diente Nana als »Anstandsdame«, leistete ihr Gesellschaft und begleitete sie auf ihren Ausgängen. Die Anwesenheit der Madame Lerat schien sie anfangs zu beunruhigen. Aber nachdem sie erfahren hatte, daß sie eine Tante von Nana sei, betrachtete sie sie mit einer freundlichen Miene, einem matten Lächeln. Nana machte sich unterdessen, indem sie erklärte, daß ihr der Magen herausfalle, über die Radieschen her, die sie ohne Brot verspeiste. Madame Lerat, die wieder zeremoniell wurde, mochte keine Radieschen, sie verursachten ihr Magenkatarrh. Als nachher Zoé die Koteletts hereinbrachte, schnitt Nana die Fleischstücke für ihre Gäste ab und begnügte sich damit, die Knochen zu benagen. Bisweilen betrachtete sie von der Seite den Hut ihrer alten Anstandsdame.
»Ist das der neue Hut, den ich Ihnen gegeben habe?« fragte sie endlich.
»Ja, ich habe verschiedenes an ihm geändert«, antwortete Madame Maloir mit vollem Munde.
Der Hut hatte eine höchst überspannte Fasson, über der Stirn war er weit ausgebogen und mit einer mächtigen Feder bedeckt. Madame Maloir hatte die Gewohnheit, alle ihre Hüte umzuändern; sie allein wußte, was ihr stand, und im Handumdrehen machte sie aus dem elegantesten Kopfputz eine Schlafhaube. Nana, die ihr eben erst diesen Hut gekauft hatte, um sich ihrer auf ihren gemeinschaftlichen Ausgängen nicht schämen zu müssen, wurde beinahe ärgerlich und rief: »So nehmen Sie ihn doch wenigstens ab!«
»Nein, ich danke«, gab die Alte bedächtig zur Antwort, »er hindert mich durchaus nicht, ich esse sehr gern mit dem Hut auf dem Kopf.«
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