Название: Die drei Lichter der kleinen Veronika
Автор: Manfred Kyber
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754189221
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»Ach, die zeige mir bitte einmal«, rief Veronika und klatschte vergnügt in die Hände, »es gibt ja eine Menge bei dir zu sehen. Zu dir muß ich recht oft in den Baum hineinkommen!«
»Wer weiß, wann du wiederkommst, kleine Veronika«, sagte die Elfe, »vielleicht kommt bald die Dämmerung über dich, und du wirst mich und das alles für eine ganze Weile vergessen. Doch die großen Gestalten darf ich dir nicht zeigen, du würdest dich so sehr erschrecken, daß du nicht mehr in dein irdisches Kleid zurückschlüpfen wolltest. Das aber mußt du tun, denn deine Wanderung hat ja erst begonnen.«
»Muß ich denn wandern?« fragte Veronika, »ich gehe doch bloß im Garten spazieren, wie heute.«
»Du wirst viele Wanderungen machen, und es wird kein Spaziergang sein, kleine Veronika.«
»Ach, meinst du?« sagte Veronika, »und stehen hinter den weißen Männchen auch so große Gestalten und sind sie auch so schrecklich? Huh, wie sich die Männchen zanken! Aber jetzt hat das weiße Männchen doch den Stein behalten, das freut mich riesig, er soll ihn nur recht schön klar und durchsichtig machen.«
»Ja, auch hinter den weißen Männchen stehen große Geister, doch die sind nicht schrecklich. Sie sind wunderbar schön, aber so schön, daß du auch sie noch nicht ertragen könntest. Warte nur, kleine Veronika, bis du einmal die Augen der Tiefe haben wirst, dann kannst du die einen und die anderen schauen.«
»Dann möchte ich bald die Augen der Tiefe haben«, sagte Veronika sehnsuchtsvoll.
»Ach, kleine Veronika, wünsche das nicht. Die Augen der Tiefe reifen durch Tränen, und die Tränen kommen noch früh genug.«
An den Baumstamm klopfte es leise. Draußen stand ein Luftgeist, der sah aus, als wäre er aus lauter bunten Farben gewoben, und an den Schultern hatte er Falterflügel.
»Oh, ist der hübsch«, rief Veronika.
»Ich soll die kleine Veronika abholen und sie noch einmal zur silbernen Brücke führen«, sagte er leise.
»Das ist aber nett von dir«, meinte Veronika, »ich freue mich sehr darauf, eine silberne Brücke möchte ich zu gerne sehen!«
»Ich glaube, deine Dämmerung ist nun nahe gekommen, Veronika«, sagte die Elfe. »Steige hinauf in die Krone, dann gibt dir der Luftgeist die Hand, und du fliegst mit ihm zur silbernen Brücke.«
»Kommst du nicht mit?« fragte Veronika, »ich würde mich sehr freuen, wenn du mitkämst. Wir haben uns so schön unterhalten.«
»Nein, ich kann nicht mit dir gehen«, sagte die Elfe, »ich bin an den Baum gebunden und muß in ihm bleiben, bis er abstirbt oder gefällt wird. Das kommt auch einmal.«
»Oh«, meinte Veronika bedauernd, »tut das sehr weh?«
»Es tut schon weh«, sagte die Elfe, »aber nicht so, wie du es dir denkst. Es ist so, als ob man auszieht aus einem Haus, das man gern hatte, in ein anderes, nicht so, wie wenn du dich in den Finger schneidest. Solchen Schmerz fühlen wir nicht, und wir sterben auch nicht so wie Menschen und Tiere, denn die sind ja anders mit ihrem Erdenleib verwachsen, und es ist ein größerer Abschnitt für sie, wenn sie ihn verlassen und über die silberne Brücke gehen. Wir aber sind halb hier und halb dort zu Hause, bis wir alle einmal die gleiche Heimat finden. Doch das wird erst sein, wenn Schneewittchen erwacht ist.«
»Ich kann das nicht ganz verstehen«, meinte Veronika, »ich bin noch nie gestorben und noch niemals von einem Haus in ein anderes gezogen.«
»Du hast beides schon viele Male getan«, sagte der Luftgeist von oben, »du hast es nur wieder vergessen. Die Dämmerung ist dazwischengekommen, und nun kommt sie bald wieder, kleine Veronika. Aber zuerst wollen wir noch zur silbernen Brücke fliegen.«
Da hob die Elfe Veronika auf und trug sie hoch in die Krone des Baumes, wo der Luftgeist auf sie wartete.
»Lebe wohl, kleine Veronika«, sagte sie, »vergiß mich nicht. Aber ich weiß ja, daß du mich vergessen wirst, wenn die Dämmerung kommt. So will ich dir lieber sagen: erinnere dich wieder einmal meiner, und dann denke daran, daß Schneewittchen im gläsernen Sarge schläft wie wir alle und daß wir alle erlöst sein wollen.«
»Ja, daran will ich denken«, versprach Veronika, »lebe wohl und auf Wiedersehen. Ich komme bald!«
»Du wirst nicht so bald kommen, und wenn du wieder durch den Garten der Geister wanderst, wird viel geschehen sein, Veronika«, rief die Elfe ihr nach und winkte ihr mit der Hand zum Abschied.
Oben in den grünen Zweigen saß die Amsel und machte einen erheblichen Lärm.
»Du brauchst nicht so zu schreien«, sagte Veronika, »über dich habe ich mich geärgert, denn du hast geschimpft, weil ich mit Mutzeputz befreundet bin. Dabei ist Mutzeputz viel klüger als du, und ich tue nichts, ohne Mutzeputz zu fragen. Überhaupt will ich dir sagen, daß du keine Ursache hast, auf andere zu schimpfen, denn der Käfer hat noch viel schlimmer über dich gesprochen als du über Mutzeputz. Der Käfer sagte, du seiest ein scheußliches Geschöpf, und die Regenwürmer sind auch derselben Meinung. Der Käfer sagte, er hätte mir nicht sein Landhaus gezeigt, wenn er gewußt hätte, daß ich dich kenne. Siehst du, so steht es mit dir, und du hast kein Recht, über Mutzeputz zu schimpfen. Mutzeputz hat auch stets seine pünktlichen Mahlzeiten und hat es nicht nötig, dich aufzuessen. Dich schon gar nicht!«
Veronika war es ordentlich eine Erleichterung, daß sie sich das vom Herzen reden konnte. Denn sie konnte es durchaus nicht vertragen, wenn jemand Mutzeputz nicht die schuldige Achtung erwies. Die Amsel aber saß da und sperrte den Schnabel auf über eine solche unerhörte Frechheit. So etwas hatte ihr wahrhaftig noch niemand gesagt, und das Schlimmste dabei war – es ließ sich auch nichts dagegen einwenden.
»Du hast schon recht, Veronika«, sagte der Luftgeist, »aber, sieh einmal, Mutzeputz hat recht, und die Amsel, die Käfer und die Regenwürmer auch. Das sind die Kräfte, die sie vernichten, weil sie in die Dämmerung hinabsteigen mußten, und das wird erst anders werden, wenn Schneewittchen wieder erwacht ist, und dazu kannst du einiges tun, und alle anderen Menschen können es wie du. Das sind große Geheimnisse des Werdens und Vergehens, Veronika, nur sind sie heute noch ein bißchen zu schwer für dich. Aber, nicht wahr, du kannst es verstehen, daß es dir auch nicht recht wäre, wenn man dich aufessen wollte – natürlich nicht dich, sondern deinen Erdenleib?«
»Ja«, meinte Veronika, »ich selbst bin nicht gegessen worden und kann darüber nichts sagen, ich denke es mir aber sehr eklig.«
»Siehst du«, sagte der Luftgeist, »und nun stelle dir einmal vor, es würde jemand kommen und die aufessen, die du lieb hast – und solche hast du doch auch, nicht wahr?«
»Natürlich«, sagte Veronika eifrig, »Mutzeputz und Mama, Onkel Johannes, Tante Mariechen, den kleinen Peter und meine Puppen, nein, die darf niemand essen, das wäre ja schrecklich. Auch Karoline soll nicht gegessen werden. Karoline ist die Köchin, weißt du. Sie spricht sehr laut, aber Mutzeputz schätzt sie sehr. Es ist eigentlich sonderbar, daß Mutzeputz sie schätzt, denn er mag es sonst nicht leiden, wenn man laut mit ihm spricht. Wir sprechen meist nur mit Gedanken zusammen. Papa kann man nicht mehr aufessen. Papa ist im Himmel. Mama sagt, der СКАЧАТЬ