Anarchistische Analysen zur Gegenwart. Jörg Djuren
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СКАЧАТЬ lösen den Nationalstaat ab?

      Wie sieht das neue Subjekt der Macht aus?

      Was ist für das Geschlechterverhältnis zu erwarten?

      Was ist bzgl. der Arbeits- und Familienverhältnisse zu erwarten?

      Wie kann die Zerstörung erkämpfter Freiräume und sozialer Rechte verhindert werden, ohne sich für den Erhalt der alten Machtverhältnisse, z.B. den Nationalstaat, oder ihre Modernisierung instrumentalisieren zu lassen?

      Wie ließe sich der Umbruch für die Durchsetzung ganz anderer anarchistischer Alternativen nutzen?

      Wie könnten diese anarchistischen Alternativen aussehen?

      Für diese Fragen sollen im Folgenden Ideen entwickelt werden, keine definitiven Antworten. Auf den Versuch zu begreifen und auf Theorie zu verzichten, halte ich für falsch, aber jede anarchistische Theorie muß offen für die Reformulierung an Hand politischer Praxis, der Alltagserfahrung und der Bedürfnisse und Interessen der Menschen sein.

      Nach dem Nationalstaat - MIS (Multinationale Institutionelle Strukturen)

      Der Ablaßhandel im Mittelalter und der Verkauf von Markenturnschuhen funktionieren nach ähnlichen Prinzipien, verkauft wird primär etwas was beliebig zu Minimalkosten vervielfältigbar ist, ein Markenname heißt er nun Gott oder Nike, aber über Monopolisierung künstlich knapp gehalten wird.

      In vielen Science Fiction lautet die Antwort auf die Frage, was kommt nach dem Nationalstaat? Die Konzerne. Dies ist für mich nicht überzeugend. Industriekonzerne allein können die notwendigen Bedingungen, z.B. Rechtssetzung, globale Infrastruktur, u.a., für ihre Existenz nicht sicherstellen - zumindest, wenn ich nicht etwas völlig anderes als bisher üblich unter diesem Begriff denke -. Außerdem wird im Science Fiction diese Konzernherrschaft dann doch wieder wie ein Staat gedacht, z.B. mit festem Territorium7 .

      Zur Zeit bilden sich aber neue Strukturen heraus, die durchaus die Nationalstaaten ablösen könnten, Mischformen zwischen Konzernen und überstaatlichen, staatliche Aufgaben wahrnehmenden, Institutionen. Diese Multinationalen Institutionellen Strukturen, kurz MIS, stellen etwas neues dar. Sie entstehen zum Teil aus Konzernen, z.B. aus Gefängnis- und Sicherheitsunternehmen, die exekutive Funktionen vom Staat übernehmen, aber auch aus überstaatlichen Behörden und internationalen Institutionen, die sich zunehmend konzernartig organisieren.

      Ein Beispiel für das Zweite ist das Europäische Patentamt, kurz EPA.

      Das EPA hat einen eigenen Haushalt, der sich aus seinen Einnahmen aus einem Anteil an den Patentgebühren ergibt, über den es autonom verfügt. EPA-MitarbeiterInnen haben DiplomatInnenstatus und sind nicht der der nationalen Gerichtsbarkeit unterstellt. Das EPA verfügt über eine eigene Gerichtsbarkeit bzgl. Einsprüchen in Patentrechtsstreitigkeiten, deren Entscheidungen national anerkannt werden müssen. Das EPA beschäftigt bevorzugt MitarbeiterInnen, die nicht aus dem Land ihres Hauptsitzes Deutschland kommen. Mitglieder der Kotrollgremien des EPA sind in nicht unbeträchtlicher Zahl, nach Beendigung ihrer Tätigkeit, als führende MitarbeiterInnen des EPA wiederzufinden.

      In einem etwas polemischen Kommentar wurde in der Presse dem EPA auch schon empfohlen als autonomer Staat die Mitgliedschaft in der EU zu beantragen.

      Das EPA ist also eine multinationale bürokratische institutionelle Struktur, die exekutive und juridikative Funktionen für einen Teilbereich der Gesellschaft in sich vereint und mit nicht unbeträchtlichem Erfolg versucht für diesen Teilbereich auch die Legislative zu kontrollieren. Die Behörde ist dabei zum Teil strukturiert und agiert wie ein multinationaler Konzern, der eigene Standortentscheidungen herbeiführt, sich neue Märkte (durch die Ausweitung des Patentbegriffes) erschließt und wachstumsorientiert arbeitet. Das EPA bricht dabei mit der Erteilung fragwürdiger Patente systematisch EU-Recht und setzt die Interessen multinationaler Konzerne auch gegen die Interessen der EU8 durch.

      Interessanterweise ist einer der Sitze des EPA in Berlin Kreuzberg (Ecke Lindenstraße/Glitschiner Str.), diese mit hauptverantwortliche Institution für die Ausweitung genetischer Patente scheint aber die autonome Linke nicht zu interessieren.

      Die Multinationalen Institutionellen Strukturen, kurz MIS, unterscheiden sich in einer Reihe von strukturellen Fakten von traditionellen Konzernen und staatlichen Institutionen.

      - Für die MIS ist nicht nur das traditionelle Kapital (Geld, Grundvermögen, Besitz an Produktionsmitteln, ..) ausschlaggebend, sondern das Kapital einer MIS kann auch wesentlich aus symbolischen oder rechtlichen Kapital bestehen, z.B. aus dem Recht Patente erteilen zu dürfen, wie das EPA. Dieses Kapital wird auch offensiv zur Ausweitung des Einflußbereiches, also zur weiteren Kapitalakumulation eingesetzt. Im Fall des EPA wird das Patentrecht in diesem Sinn instrumentalisiert.

      Außerdem werden die Kapitalarten flexibel in einander umgewandelt. So transformiert das EPA seine Patentierungsbefugnis in Geld und politischen Einfluß. Gefängniskonzerne in den USA setzen Geld in politischen Einflußnahme um mit der sie wiederum auf Gesetzesverfahren Einfluß nehmen können, die ihre exekutiven Machtbefugnisse ausweiten, die sie wiederum in Geld umsetzen können. Die MIS Katholische Kirche ist ein anderes Beispiel für die virtuose Umwandlung unterschiedlicher Kapitalarten, hier wird symbolisches Kapital in Geld und politische Einflußnahme umgewandelt und dies wieder zur Ausweitung des symbolischen Kapitals genutzt. Ein Beispiel für die Transformation von Kapitalarten ist auch die Generierung von Markennamen.

      - Ein anderes Merkmal der MIS ist ihre geringe territoriale Bindung. So nutzt das EPA Standortentscheidungen um auf EU-Länder Druck auszuüben. Bei multinationalen Konzernen ist dies sowieso üblich.

      Dies ist nur mit dem großen Anteil von nicht vom Produktionsstandort abhängigen Kapitalarten, z.B. einem Markennamen, zu begreifen. Im Extrem führen dies Konzerne wie Nike vor, die andere Firmen für ihre Marke produzieren lassen. Aber auch Wissen und Patente und hochqualifizierte Angestellte, die primär an den Konzern gebunden sind, sind solche standortunabhängigen Kapitalarten. Sie stellen eine wesentliche Erweiterung der klassischen Produktionsmittel, der Produktionsmaschinen, der Fabrik, die an einen Standort gebunden war, dar.

      - Die MIS zeichnen sich durch eine starke Identifikation ihrer WissensarbeiterInnen mit dem Konzern aus. Nationalstaatliche oder regionale Bindungen der mittleren und höheren Angestellten sind demgegenüber irrelevant. Es wird Englisch gesprochen und MitarbeiterInnen wechseln häufiger den Ort. Diese Personalpolitik ist durchaus als bewußte Maßnahme zur Unterbindung des Aufbaus alternativer nicht auf den Konzern oder die Institution bezogener Sozialstrukturen anzusehen.

      Zum Teil übernehmen MIS auch weitere Funktionen für ihre MitarbeiterInnen. Z.B. gilt dies für Rohstoffkonzerne in einigen Regionen Afrikas, in denen sie semistaatliche Strukturen von Schulen bis hin zu Militärapparaten aufgebaut oder von anderen MIS angemietet haben.

      - MIS agieren primär mit Bezug auf andere MIS, sie stehen untereinander in Wechselwirkung, in Bündnissen und Konfrontationen. Noch müssen sie Rücksicht nehmen auf die mächtigeren Staaten der Welt. Noch gibt es starke Bindungen an Nationen. Dies wird aber nicht so bleiben. Zur Zeit werden die MIS von nationalstaatlichen Strukturen ausgehend aufgebaut. Dies ist vergleichbar der Phase des Absolutismus in der die Adelsgesellschaft den Nationalstaat begründete. Doch irgendwann wird es zur Ablösung kommen und zu den ersten Kriegen von MIS gegen Staaten und von MIS untereinander. Kriege nicht mehr unbedingt um reale Territorien sondern um virtuelle Einflußgebiete, z.B. Patenansprüche, Markennamen9 oder Fernsehkanäle, so absurd das heute klingen mag.

      - Für die MIS spielt die Ausweitung von Patentrechten, z.B. auf schon lange existierende СКАЧАТЬ