Der Pferdestricker. Thomas Hölscher
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Название: Der Pferdestricker

Автор: Thomas Hölscher

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783750219397

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СКАЧАТЬ Opfer war ein Mann von sechsundsiebzig Jahren. Wenn dieser Mann seine Kräfte nicht maßlos überschätzt hatte, lag der Verdacht nahe, dass er den Täter gekannt hatte. Dass er ihn womöglich sogar erwartet hatte: dafür sprach auch das Ausschalten der Alarmanlage.

      Wen also hatte dieser Mann gekannt?

      In der näheren Umgebung ließ sich die Liste der in Frage kommenden Personen schnell abarbeiten: Bis auf die Haushaltshilfe und den Jungen, der alle 14 Tage kam, um den riesigen Garten in Ordnung zu halten, kannte den Mann niemand näher. Und natürlich wurden diese beiden Personen und deren Umfeld genau unter die Lupe genommen.

      Die Haushaltshilfe hieß Koscinski und wohnte im ungefähr 10 Kilometer entfernten Dorsten. 1988 war sie mit ihrer Familie aus Schlesien in die Bundesrepublik gekommen und hatte alle Klischees über polnische Spätaussiedler bedient: Das Wort Sozialhilfe hatte sie sogar buchstabieren, aber ansonsten kein einziges deutsches Wort sprechen können. Ihr 58jähriger Mann hatte über 45 Jahre in schlesischen Kohlegruben gearbeitet – zumindest hatten das zwei ebenfalls aus Schlesien geflüchtete Kumpel bei der Knappschaft beeidet – und bezog deshalb eine Rente, die weit über dem lag, was ein deutscher Kumpel im Durchschnitt als Altersruhegeld bezog. Ihre zwei Kinder waren inzwischen volljährig: die Tochter arbeitete als Abteilungsleiterin in einem großen Kaufhaus in Essen, war verheiratet und wohnte auch dort; der 21jährige Sohn, der erklärte Liebling der Mutter, studierte Ingenieurswissenschaften in Bochum. Er hatte als Spätaussiedlerkind zwar problemlos eine Bude im Studentenheim in Bochum bekommen, wohnte aber dennoch zumeist bei Muttern.

      Mutter selber hatte schon früh die Vorteile des Kapitalismus erkannt und war sich trotz der üppigen Rente des Ehemannes nicht zu schade gewesen, das Familieneinkommen durch diverse nie versteuerte Jobs zu erhöhen. Als sie den in einer Zeitung annoncierten Job bei Schneider tatsächlich bekommen hatte, hatte es ihr zu Beginn den Atem verschlagen. Wenig später hatte ganz Dorsten erfahren, dass sie als Haushälterin bei dem Millionär arbeitete.

      Für die Polizei gab es hier Fragen, die mit dem Mord zusammenhingen, schon sehr bald nicht mehr.

      Das war bei der anderen ständigen Kontaktperson des Ermordeten allerdings nicht der Fall. Dabei handelte es sich um den einzigen Sohn vom Nachbarhof. Karl, so hieß der arme Kerl, war mehr oder weniger geistig behindert, und setzte somit eine uralte westfälische Tradition fort, der zufolge der Älteste Pastor, der zweite Lehrer, der Dämlichste Arzt und irgendeiner der Spökenkieker werden musste. Da auch im katholischen Münsterland die Antibabypille mittlerweile ihre verheerende Wirkung entfaltet hatte, waren der Pastor, der Lehrer und sogar der Arzt ausgefallen, und nur Karl war zur Welt gekommen. Als geistig Behinderter kam Karl natürlich sofort in das Fadenkreuz der Untersuchungen; dennoch war in diesem Fall nicht einmal einem Gärtner etwas anzuhängen, an dem sogar eine Annette von Droste-Hülshoff ihr Vergnügen gehabt hätte.

      Ansonsten war sehr schnell klar, dass das Opfer so offensichtlich gar kein Bedürfnis nach sozialen Kontakten gehabt hatte, dass es bei den Menschen in einer ländlichen Gegend wie dieser aber sehr wohl bekannt war, dass sich dort ein steinreicher Unternehmer in ihrer Mitte niedergelassen hatte. Er wollte zwar niemanden kennen, aber natürlich wusste man, wer er war. Die Zahl möglicher Täter und Motive explodierte.

      Denn schließlich war dieser Mann nicht irgendwer.

      Konrad Schneider kannte man im Ruhrgebiet. In allen Städten dieser Region trug zumindest jede zweite Bäckerei seinen Namen.

      Dieser Mann war zunächst Arbeiter in einem Stahl produzierenden Betrieb in Duisburg gewesen. 1988 war dieser Betrieb geschlossen worden und Schneider war arbeitslos geworden. Damals war er 56 Jahre alt gewesen und somit in dem von der Gewerkschaft erarbeiteten Sozialplan nicht berücksichtigt worden. Mit 57 Jahren hätte er in die Frührente gehen können.

      Der Mann war aber nicht in Rente gegangen.

      Zum Arbeitsamt auch nicht.

      Mit der nicht unerheblichen Abfindung, die ihm auf Grund seiner mehr als 35 Jahre Arbeit in diesem Betrieb gezahlt worden waren, hatte er sich einen Kindheitstraum verwirklicht: Er hatte immer schon Bäcker werden wollen.

      Bei der Verwirklichung dieses Traumes war er sehr schnell an die Grenzen seiner Träume gekommen: In Deutschland gab es schließlich eine völlig überflüssige Handwerksordnung, und selbst wenn man nur kleine Brötchen backen wollte, brauchte man dafür einen Meisterbrief. Da er nicht im Besitz eines solchen war, hatte Schneider schnell einen Kompagnon gefunden, mit dessen Meisterbrief der erste Laden eröffnet werden konnte. Diesen Mann hatte Schneider finanziell über den Tisch gezogen, ein Verhalten, das er beim Aufbau seines Backimperiums ganz offensichtlich nicht zum letzten Mal gezeigt hatte. Sein Weg zum Millionär war gepflastert mit vielen Bankrotteuren, die Schneiders gnadenloses Geschäftsgebaren ruiniert hatte. Feinde, das war der Polizei sehr schnell klar, hatte dieser Mann mehr als genug gehabt, und so war es mehr als verständlich, dass sich die Untersuchungen schließlich vor allem auf das geschäftliche Umfeld des Opfers konzentrierten.

      Von Erfolg waren diese Bemühungen allerdings allesamt nicht gekrönt. Und hatte der Mord zunächst auch überregional für Aufsehen gesorgt, so war das öffentliche Interesse daran auch schnell wieder verflogen.

      Fast anderthalb Jahre nach dem Mord sorgte der Fall noch einmal für landesweites Aufsehen, wurde er doch in der Fernsehsendung „Aktenzeichen XY“ behandelt. Die Polizei war inzwischen davon überzeugt, dass der Mörder im geschäftlichen Umfeld des Opfers zu suchen war, und fragte deshalb nach dem Verbleib einer Person, die ebenfalls von dem Opfer um die Existenz gebracht worden und mittlerweile von der Bildfläche verschwunden war.

      Zunächst war man bei der Mordkommission in Recklinghausen optimistisch, weil die Zahl der eingegangenen Hinweise außergewöhnlich hoch war. Aber schon bald wurde deutlich, dass keiner dieser Hinweise etwas brachte und schon gar nicht das war, was man eine heiße Spur nannte.

      In den folgenden Jahren nahm nicht nur das Interesse der Öffentlichkeit rapide ab. Ein Beamter nach dem anderen wurde zur Bearbeitung anderer Fälle aus dem Untersuchungsteam abgezogen, und spätestens zu Beginn des Jahres 2003 drohte der Fall Schneider zu dem zu werden, was man einen cold case nannte: ein Fall, den man nicht lösen konnte und deshalb schon ad acta gelegt hatte.

      Das große Anwesen war mittlerweile längst verkauft worden. Es hatte einen Preis erzielt, der die einzige Erbin, die Tochter des Ermordeten, wütend machte, lag dieser Preis doch nur geringfügig über dem, den der Vater vor sieben Jahren für einen ziemlich heruntergekommenen Bauernhof irgendwo in the middle of nowhere gezahlt hatte. Im gesamten Ruhrgebiet waren die Immobilienpreise im Keller: In allen Städten verzeichnete man hohe Abwanderungsquoten, weil man das Sterben der ursprünglichen Industrien Kohle und Stahl und den Aufbau neuer Strukturen viel zu lang hinausgezögert hatte.

      Blieb noch ein kleines Problem: das weiße Pony.

      Die Haushaltshilfe des Ermordeten erklärte sich auf Bitten der Tochter des Opfers bereit, eine Annonce in die Zeitung zu setzen. Der Tochter war es völlig gleichgültig, ob mit diesem Tier noch irgendein Gewinn zu erzielen war.

      Der Haushaltshilfe nicht.

      Zum Ende des Jahres 2000 gab es für lebende Ponys ganz offensichtlich keinen Markt; den höchsten Preis zahlte nämlich schließlich ein Schlachter.

      Irgendjemand kam dem Schlachter aber zuvor und schnitt dem alleine auf weiter Flur grasenden Pony eines Nachts kurzerhand die Kehle durch. Am Morgen lag das Tier mit sauber durchtrenntem und ausgeblutetem Hals auf dem Rasen. Ein einsamer Spaziergänger hatte es gefunden.

      Zunächst hatte sich dieses Ereignis aufgrund der nach kurzer Zeit bereits in der gesamten Umgebung kolportierten СКАЧАТЬ