Название: Hau ab! Flüchtlingskind!
Автор: Birte Pröttel
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
isbn: 9783847621478
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Als die Front im Osten näher kommt und eine Weiterarbeit an
der Autobahn nun nicht mehr vorangeht, wird Vater wieder eingezogen. Er kommt zu Organisation Todt. OT genannt, einer Einheit, die sich mit dem Bau von Bunkern, z. B. mit dem Westwall beschäftigte. Er wurde nach Norwegen geschickt. Vater muss in Norwegen schreckliche Dinge erlebt haben, von denen er nie erzählte. Außer einer Begebenheit, die uns Kinder erschauern ließ. Er berichtete, dass er das Land rings um Hammerfest vermessen sollte. Norwegen war von den Truppen Hitlers ohne großen Widerstand erobert worden. Aber es gab im Untergrund viele Norweger, die gegen die Nazis kämpften.
Bei seinen Erzählungen erstand ein Bild vor mir: Vater auf der Schulter einen Theodolit, auf der anderen ein Sturmgewehr. Der lange, schwere Wehrmachtsmantel schleift über den Schnee, die Langschäfter sinken bei jedem Schritt bis über den Rand in den Harsch. Der Wind zerrt an den Fellklappen über den Ohren, die anderen beiden Soldaten stöhnen, schleppen schwere Kisten mit sich. Vater freut sich, bald die Unterkunft zu erreichen, heißen Tee zu schlürfen, ausruhen. Die vorausgeschickten Soldaten haben die Unterkunft bestimmt geheizt. Diese Vision treibt die drei Landvermesser voran. Sie fühlen sich wie Amundsen, Bering und Nansen beim Erforschen neuer Länder.
Der Wind kämpft mit den Männern, er drückt die Tür zu, die sie zu öffnen versuchen. Plötzlich reißt die Tür quietschend auf. Der Raum ist dunkel, Schnee ist hereingeweht, die Fenster sind zerbrochen. Am Boden liegen erschossen die drei Männer der Vorhut. Wenn Vater an diese Stelle seiner Erzählung kam, stockt uns der Atem, wir erschauern und Vater verstummt. Mehr hat er nie erzählt.
Er war so geschockt, dass er am liebsten den Dienst quittiert hätte. Aber da gab er uns eine Lektion in Vasallentreue. Wer auf die Fahne geschworen hat, darf nicht einfach so desertieren. Das wäre Hochverrat und darauf steht die Todesstrafe.
Nach dem Erlebnis in Norwegen ließ er sich zurückversetzen. Er blieb bei der OT und bekam einen Posten im noch sicheren Heidelberg.
Die Hütte in Nordnorwegen
Es gibt Nachwuchs: eine kleine Schwester
Im Kriegswinter 1944 versinkt Eichenwalde in tiefem Schnee, klirrende Kälte dringt durch Fenster und Türritzen. Alles ist lautlos und wattig. Wir Kinder sind begeistert, toben im Schnee bis Handschuhe und Stiefel steif gefroren und die Nasen knallrot sind. Von Ferne hört man hin und wieder Schüsse und danach das Kläffen der Hunde. Sonst liegt Totenstille über der Gegend. Das letzte Weihnachten in der Heimat steht bevor. Eichenwalde ist nicht unser zu Hause. Mutter wartet ungeduldig auf die Möglichkeit, wieder in eigene vier Wände zurückzukehren. Tante Inge und Mutti sprechen kaum mehr miteinander. Ich schäme mich für Mutti, sie ist so dick geworden in letzter Zeit und Tante Inge so schlank. „Sie bekommt doch ein Baby“, flüstert Arne in mein Ohr. Der dicke Bauch wurde damals im Gegensatz zu heute, so gut es geht, versteckt. Heute sind die jungen Mamis stolz, ein Baby zu bekommen und alle Welt soll das deutlich sehen. Ich will nicht, dass Mutter ein neues Baby bekommt, mir reichen meine Brüder. Ich will lieber eine schicke
Mutter und eine Puppe zu Weihnachten. Man fragt sich, wie die Frauen im Krieg alle immer wieder schwanger wurden. Die Männer sind im Krieg, die zurückgebliebenen in der Regel nur alte Greise, hohe Offiziere oder Männer in kriegswichtigen Betrieben. Die Offiziere in Eichenwalde waren für Tante Inge reserviert. Kriegswichtige Betriebe gab es weit und breit nicht. Kam also nur Vater und seine Urlaube vom Krieg infrage, den Grundstein für ein neues, viertes Kind gelegt zu haben. Im
Herbst besucht uns Bestemor, sie macht ihrer Tochter Vorwürfe: „Wie kannst du in solchen Zeiten noch Kinder in die Welt setzen? Kann denn dein idiotischer Mann nicht aufpassen?“
Mutter war dann immer beleidigt: „In solchen Zeiten ist einem alles egal und außerdem sind Kinder ein Reichtum.“ Ich kann mir heute gut vorstellen, dass meine Eltern sich verzweifelt geliebt haben im Angesicht des allgemeinen Untergangs, dass es ihnen völlig egal war, was später ist. Jetzt und hier lieben sie sich. Und jetzt und hier nehmen sie Abschied. Vielleicht für immer. Was kümmern uns jetzt die Folgen. Na ja, die Folge war unsere kleine Schwester. Hineingeboren in das Inferno einer untergehenden Welt. Aber auch in dieser Welt hält man sich an Rituale. Dazu gehört auch Weihnachten.
Bestemor mit uns auf der Treppe zum Gutshaus
Weihnachten 1944
Im Gutshaus ist man geschäftig. Es wird gekocht und gebacken. Ein zarter Duft nach Zimt, Zucker und Weihnachtsplätzen streicht durch die Gänge des Gutshauses. Lockt uns in die große, warme Küche. Hans und Grete backen und werkeln „wie in Friedenszeiten“. Sie schöpfen aus den reichen Vorräten in Kellern und Kammern des Hauses. Einige Offiziere stecken ihre Köpfe im Herrenzimmer über Landkarten zusammen vernebeln den ganzen Salon mit Zigarrenrauch, aber die meisten der Offiziere sind auf Heimaturlaub. Von hier in Eichenwalde lässt sich der Krieg nun wohl nicht mehr gewinnen. Tante Inge ist es langweilig, sie schikaniert die Zwangsarbeiter und das andere Personal. „Wenn mein Mann zu Weihnachten kommt, muss alles picobello sein!“ Die Anspannung im Haus ist nicht nur wegen des bevorstehenden Festes, es sind auch schon andere Zeichen, die die kleine Gruppe bedrohen. Erste Flüchtlingstrecks ziehen auf der zwei Kilometer entfernten Hauptstraße vorbei. Tante Inge nennt sie spöttisch: „Fahnenflüchtige Flüchtlinge.“ Und „Ich verlasse dieses Haus nicht, da können noch so viele Russen kommen ...“ Frau Sommer, ihre Schwiegermutter schüttelt nur den Kopf, packt heimlich schon ihre wichtigsten Sachen. Mutter bereitet mit ihrem dicken Bauch Weihnachten vor. Sie ahnt nicht, dass es unser letztes Fest in Pommern ist.
Auf den Speichern Eichenwaldes finden sich Spielsachen, die dort seit Generationen vor sich her rotten. Sie werden runter geholt, frisch angemalt, Teddys bekommen neue gehäkelte Hosen über den morschen Bauch, Puppenkörper werden aus alter Unterwäsche genäht und mit neuen Lumpen-Kleidchen geschmückt.
Ich freue mich wie verrückt auf Weihnachten und die Geschenke. Ich habe nämlich gesehen, wie Mutter heimlich ein komisches Ding aus ihrer rosaroten Unterhose näht. Vor Spannung kann ich es fast nicht aushalten. Ich wünsche mir sehnlichst eine Puppe. Jetzt im Winter spielen wir meistens drinnen und da fehlt mir eine Puppe für das beliebte Vater-Mutter-Kind-Spiel. Christian weigert sich, unser Baby zu spielen. Nicht mal gewickelt oder gefüttert will er werden. Ich brauche also dringend eine Puppe. Ich bin sicher, ich bekomme eine Puppe, sonst hätte Mutter ja ihren Schlüpfer nicht zerschnitten.
Der Heilige Abend schaltet den Krieg für ein paar Stunden aus. In der Ecke unseres kleinen Wohn-Schlafzimmers steht eine knubbelige Fichte. Den Schmuck haben wir aus Buntpapier selbst gebastelt. Ich bin stolz auf meine kleinen Koffer aus leeren Streichholzschachteln, aus deren Seiten ein bisschen Watteschnee ragt. Sie hängen bunt und lustig in den grünen Zweigen. Die langen Ketten aus farbigen Papierringen umgarnen das Bäumchen wie ein Spinnennetz. Arne hat sie gemacht und sie sind sicherlich einige Meter lang. Als Kleber nehmen wir Mehl mit Wasser, hält prima. Kerzen für den Baum konnte Mutter nicht auftreiben. Uns fehlen sie nicht. So viele Weihnachten haben wir noch nicht erlebt, dass wir bestimmte Rituale vermissen. Wir singen: „Ihr Kinderlein kommet“ und „Oh, du fröhliche“ und dann ist Bescherung.
Arne bekommt eine tolle Eisenbahn, Mutter hatte sie von Frau Sommer geschenkt bekommen und bunt angemalt. Christian beglückt ein gelber Kranwagen aus der СКАЧАТЬ