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zunehmende, oft beklagte Emanzipation des Individuums vom Kollektiv, wird meist gleichgesetzt mit egoistischer, persönlicher Selbstverwirklichung und Selbsterfüllung auf Kosten anderer. Gut für sich selbst zu sorgen hat jedoch richtig verstanden nichts mit Egoismus zu tun, sondern mit eigenverantwortlichem Denken und Handeln. Eigenverantwortung ist nicht von der Verantwortung für das Gemeinwohl zu trennen: soziale Verantwortung für die Mitmenschen, die Systeme, in die man eingebettet ist, für die Umwelt – für alles, an dem man irgendeinen Anteil hat. Wer diese Teilhaberschaft (an)erkennt, der versteht, dass er bei all seinen Überlegungen, Entscheidungen und Ausführungen alle und alles mitbedenken muss. Der wird anderen die Behandlung angedeihen lassen, die er gerne für sich selbst beanspruchen möchte. Der wird sich im Wahrnehmen seiner anteilsmäßigen Mitverantwortung im „Winter“ für den „Frühling“ engagieren, auch wenn er selbst „warm angezogen“ ist (oder in anderen Worten: Der wird sich für die Behebung von Missständen einsetzten, selbst wenn sie ihn nicht persönlich betreffen). Systemische „Kosmopoliten“, wie es sie in jedem System gibt, kommen, dank ihrer hohen Resilienz, Toleranz und Anpassungsfähigkeit, oft vereint mit bedingungsloser Pflichterfüllung, in nahezu allen Systemen auch unter widrigsten Bedingungen gut zu Rande. Allesamt vorteilhafte Tugenden, die sich für das persönliche Wohlergehen förderlich (in totalitären Systemen als lebensrettend) erweisen können. Auf die Schule gemünzt: Pflichtgetreue (Muster-)SchülerInnen sind allerorts erwünscht und geschätzt. Dem experimentierfreudigen Lehrer gestatten sie Versuch und Irrtum und damit den unverzichtbaren Erwerb von Erfahrung und Übung auf dem pädagogischen Parkett. Für und durch sie gestaltet sich der Schulalltag reibungslos. Pädagogische „Schnitzer“ verzeihend und jede an sie gerichtete Erwartung widerstandslos erfüllend, gewährleisten sie einen ungehinderten Unterrichtsablauf und eine problemlose Weiterführung des gewohnten Gehabt-wie-bisher. Dadurch tragen sie – freilich unabsichtlich – dazu bei, dass das System über Jahre hinweg in einer längst nicht mehr zeitgemäßen und für andere „weniger Tugendhafte“ lebensfeindlichen Form überdauern kann. (Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich bin allen je unterrichteten pflichteifrigen SchülerInnen von Herzen dankbar, haben sie mich doch im Schulsystem zunächst einmal praxisschockfrei ankommen und Fuß fassen lassen und mir ermöglicht, mich „pädagogisch zu entfalten“). In einem baufällig gewordenen Gebäude, wie es auch das Schul- und Bildungssystem bildlich gesprochen ist, wird jedoch von Seiten der Verantwortlichen keine Notwendigkeit einer Renovierung wahrgenommen, solange sich dessen Bewohner auch nur einigermaßen gut mit den bestehenden Mängeln arrangieren. Schulverweigerung, Verhaltensauffälligkeiten, ADHS, Mobbing, Zunahme an Krankenständen und Burnout-Symptomen bei LehrerInnen wie auch SchülerInnen aufgrund von Leistungsdruck, Überforderung, Versagensängsten…, um nur einige systemisch mitverursachte Gründe zu nennen, weisen schon seit langem darauf hin, dass dieses „Gebäude“ in einem Zustand ist, dem keine Reparatur in Form von „Flickwerk“ mehr zu einer lebensförderlichen Sanierung verhelfen kann. Die Stimmen, die sich für einen Totalabriss mit komplettem Neuaufbau aussprechen, mehren sich. Aber vor allem das „indirekte Votum“ wird immer lauter und unüberhörbarer: die Stimmen all jener SchülerInnen, die eine sich über Direktiven hinwegsetzende Aufmüpfigkeit an den Tag legen, als mehr oder weniger unbewussten Widerstand gegen inhaltlich und formal nicht mehr kompatible Bedingungen. Aber auch die Stimmen derer, die durch bewusst kritisches Hinterfragen und Verweigern unzumutbar empfundener Anforderungen auf sich aufmerksam machen und mitunter eher selbstschädigende Konsequenzen in Kauf nehmen als ihren Widerstand aufzugeben. Gerade diese „Aufbegehrer“ sind Hoffnungsträger der Erneuerung, des „Pädagogischen Frühlings“. Einzelkämpfer allesamt, ungeeint und im unorganisierten Widerstand, auf sich allein gestellt, ohne jede Befugnis, weg wollend, aber nicht wissend wohin, brauchen sie Verbündete, die über ausreichende Orientierung verfügen – nicht, um ein Zurück, eine Umkehr zu ermöglichen. Um ein Vorwärts auf neuen Wegen anbieten zu können, die für alle gut begehbar sind. Ganz verschiedene, demokratisch aushandelbare Wege, die wir ebenfalls so verschiedenen PädagogInnen selbst gut bereiten und begleiten können. Eine Passung des Systems an die jungen Menschen, nicht umgekehrt, nicht als Weg des geringeren Widerstands, sondern der besseren Einsicht wegen, kommt auch uns zugute: Wer will schon ewig moralisieren, Vernunft predigen oder trickreich motivieren müssen? Vertrauen stärken (statt Kontrolle), dass Menschen auf für sie passenden Wegen sich gerne und freiwillig fortbewegen, ihnen dabei mit Freude zusehen dürfen, ihre (Fort-)Schritte beobachten, das wäre wie Tauwetter nach einem strengen, lange andauernden „pädagogischen Winter“. Dennoch gilt: kein Aufbruch ohne Zielvision – zu frühe, ungeduldige Blüten halten dem Frost nicht stand oder bringen keine Frucht hervor. Ein „erfolgreicher Frühling“ braucht gutes Timing und bedarf der entschlossenen, couragierten, mitverantwortlichen und demokratischen Beteiligung aller Blüten.
Die Demokratie bejahen, heißt davon Gebrauch machen und machen lassen. Eine von durchgängiger Reglementierung und autoritärer Verordnung von Bildungskonzepten geprägte Bildungs-„Kultur“ hat mit demokratischen Verhältnissen nichts gemein. Der Pädagoge, dem die Befähigung seiner SchülerInnen, demokratische Prinzipien anzuwenden und diese zu verinnerlichen, am Herzen liegt, muss diese zunächst einmal dazu anleiten, den eigenen Verstand zu gebrauchen. Wer schließlich beginnt, im Sinne demokratischer Erziehung zum kritischen Hinterfragen eingewachsener Strukturen und Muster zu ermutigen und eigenständige Denk- und Entscheidungsprozesse zu fördern, der kann am Ende des Tages nicht wieder zur alten Agenda übergehen. Erziehung zur Demokratie braucht das gelebte Vorbild, kein sinnentleertes, inhaltsloses Lehrstück, der bloßen Erkenntnis willen ohne Fortsetzung in einer reellen „Performance“.
Im Vergleich
„Der Vergleich macht Sie sicher“ – so lautete einst ein Werbeslogan. Der Vergleich dient der eigenen Standortbestimmung und wird, noch bevor wir ihn selbst praktizieren können, von anderen an uns vorgenommen. Er beginnt spätestens mit Eintritt in eine öffentliche Institution, meist jedoch schon früher. Da wir dazu neigen, uns „nach oben“ zu vergleichen, das heißt mit jenen, die mehr haben, können, sind usw., schneiden wir zwangsläufig schlecht ab. Für viele ist der Vergleich möglicherweise ein Ansporn für eine Steigerung oder Verbesserung von … was auch immer. Daraus zugleich eine Erhöhung der persönlichen Zufriedenheit abzuleiten, ist ein (Trug-)Schluss, der immer nur für den Augenblick gültig sein kann. Weil schon im nächsten Augenblick ein erneutes Vergleichen, diesmal auf noch höherem Niveau erfolgt, vermehrt sich schließlich nicht die Zufriedenheit, sondern das Leid. Damit ist der Vergleich für viele der Beginn lebenslangen Leidens, basierend auf der wiederholten Erfahrung des Nicht-Genügens, des Nicht-gut-genug-Seins, der Unzulänglichkeit und gefühlten Minderwertigkeit. Denn dass sich der Vergleich nur auf der „Haben-Seite“ gut anfühlt, steht wohl außer Frage. Und obwohl wir einzigartig und damit unvergleichlich sind, vergleichen wir uns so ziemlich in allem: Wissen, Können, Denken, Haben, Sein… – und gehen dabei meist von absoluten Vergleichsmaßstäben aus. Aber auch wenn wir in Relation setzen, werden wir anderen und uns selbst nicht gerecht. Am Ende des Schuljahres lobte ein Lehrer einen schwachen Schüler vor der Klasse, dass er, trotz mangelhafter Leistung, im Vergleich zu den Mitschülern die größten Fortschritte seit Schulbeginn gemacht hatte. Dieses durchaus ernst und gut gemeinte, als positive Verstärkung gedachte Lob zeigt, wie sehr uns die Überzeugung, man könne etwas nur mittels Vergleich angemessen würdigen, in Fleisch und Blut übergegangen ist. Bezugspunkt ist zudem ein Mangel, als Maß für den Erfolg gilt die Verringerung des Leistungsrückstands (genau genommen ein Relativieren „nach unten“, das weder den Gelobten noch die im Verhältnis weniger erfolgreichen „Vergleichsobjekte“ gut dastehen ließ, auch wenn dies bestimmt nicht die Absicht des Lehrers war.)
Vergleich wirkt eher trennend als verbindend und entfacht Eifersucht und Neid. Als ob die Stärken anderer den Wert der eigenen Stärken mindern würden oder mit diesen konkurrieren müssten, enthalten wir einander nicht selten Anerkennung vor. Sich ehrlich zu freuen über Erfolge anderer, die Fähigkeiten anderer angemessen und vor allem neidlos zu würdigen, gelingt nur jenen, die sich in ihrem Anderssein wertvoll und gleichwertig fühlen. Unser Selbstwert steigt oder fällt, je nachdem wie wir, egal ob nach subjektiver Einschätzung oder „objektiven“
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