Название: Carmen im Kopfhörer
Автор: Jochen Sommer
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783844259858
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„Bärenstark“, sagte der hünenhafte Mann auf dem Hocker neben Rainer, der Anouschka ebenfalls gebannt zugesehen hatte. „Wie ist diese indische Tempeltänzerin hierher gekommen?“
„Sie ist mit mir gekommen“, informierte ihn Rainer knapp.
„Glück muß man haben“, sagte der Mann und musterte Rainer, „oder Geld. Sogar sehr viel Geld, in Ihrem Fall.“ Der Mann grinste neidisch und gemein und schaute wieder auf die Flaschen, die im Regal hinter dem Tresen standen.
Die Missgunst des Mannes ließ Rainer genüsslich an sich abperlen und lächelte Anouschka zu. Mit einer lässigen Handbewegung winkte er sie zu sich, und Anouschka gehorchte sofort.
„Gigantisch viel Geld“, hörte Rainer den Mann neben sich murmeln.
Anouschka fasste Rainer an seinem blutroten Hemd und zog sein Ohr zu ihren Lippen. „Tanzen Sie jetzt mit mir?“, flüsterte sie.
„Mindestens so viel wie Dagobert Duck und Bill Gates zusammen“, lästerte der Mann lauter.
Da rutschte Rainer stolz von seinem Sitz herab, schüttelte sich ein wenig und schritt auf den hohen Absätzen seiner Schuhe entschlossen zur Mitte der Tanzfläche. Nach einigen ungelenken Bewegungen verfiel er schließlich in eine Art Foxtrott, wobei ihn Anouschka umschlängelte. Dann begann er, den Grundschritt größer und mutiger auszulegen, bewegte auch Oberkörper und Arme dazu. Die wechselnden Musikstücke erzwangen keine Änderung seines Stils, doch er selbst änderte sich. Raumgreifend und provokant nahm er allmählich Besitz von der Tanzfläche, rempelte hier und dort Tanzende an, entschuldigte sich selten. Rücksichtslos und fordernd nahm er sich den Platz, den er benötigte. Anouschka folgte ihm wie sein eigener Schatten.
Rainer hatte niemals in seinem Leben so getanzt wie in dieser chromglänzenden Diskothek. Ohne Gefühl für die verstreichende Zeit, ohne dass es ihn körperlich anstrengte, tanzte er.
Er tanzte, bis ihn der Magersüchtige per Mikrofon bremste: „Bluestime now“, verkündete er, „Some oldies first.“
Die meisten Pärchen verließen die Tanzfläche, nur wenige, auch Anouschka und Rainer, blieben zurück.
„Wollen wir das auch tanzen?“, fragte er leise.
„Da musst du durch“, sagte Anouschka, umfasste Rainer eng und lächelte zu ihm hoch.
Ausgerechnet ‚moon river‘ legte der Magersüchtige auf, und mit den ersten Takten versank Rainer in seiner Jugendzeit, in der Zeit vor Beate. Er war wieder im Partykeller seines Freundes Jörg, wo die Eltern gelegentlich vorbeischauten, nur so. Damals hatten sie auch so eng getanzt, wenn die Eltern endlich ins Bett gegangen waren, zu ‚moon river‘ oder ‚blueberry hill‘, die damals schon Oldies waren. Während die letzten Kerzenstummel herunterflackerten, waren die Mädchen moralischer geworden und die Jungen kühner.
Wie wenig sich seither doch geändert hatte, dachte Rainer wehmütig, denn auch Anouschka hielt seine Hände fest und ihn selbst auf wohlkalkulierter Distanz. Er spürte zwar den Druck ihrer Brüste durch sein Polohemd, doch unterhalb seines Hosengürtels trennten sie Welten.
Als er die überbrücken wollte, schob Anouschka ihn sacht und weit von sich. „Nicht hier“, flüsterte sie ihm ins Ohr, „lass uns ins Hotel gehen.“
Rainer war baff. Das hätten die Mädchen in Jörgs Keller nie gesagt. Er hatte wohl einige Jahrzehnte Emanzipation verschlafen, dachte er.
Rainer ging an den Tresen, warf dem Mann dahinter einen 50-Euro-Schein zu und sagte dem neidischen Hünen: “Das war übrigens mein letztes Geld. Die nächste Stütze kommt erst in zwei Wochen.“
Im Weggehen drehte er sich noch einmal um und ergänzte: „Du Arsch.“
Der Hüne schaute stumm zurück. Er wirkte jetzt sehr viel kleiner - auf die Distanz.
Anouschka wartete schon am Ausgang neben einem Taxi. Sie hielt ihm die Wagentür auf, und Rainer krabbelte hinein auf das bequeme Polster des Wagens. Anouschka nannte dem Fahrer irgendeine Straße, in der vermutlich ihr Hotel lag.
Sie setzte sich neben ihn, Rainer nahm ihre Hand und diesmal sträubte Anouschka sich nicht. Die Häuser der holländischen Stadt glitten an ihnen vorüber, rhythmisch erhellten die Lampen über der Fahrbahn das Innere des Wagens. Ihr Licht fiel erst durch die Frontscheibe, dann verschwand es, um anschließend durch die Heckscheibe zu fallen. So bewusst hatte Rainer noch niemals eine Taxifahrt wahrgenommen und schon gar nicht mit einer solchen Frau und so eindeutigen Absichten.
Das Hotel, vor dem das Taxi hielt, kam ihm allerdings sehr bekannt vor. Es war sein eigenes.
„Beate erwartet uns sicher schon“, sagte Anouschka beim Aussteigen. Rainer bezahlte den Fahrer und knallte die Wagentür heftiger zu als notwendig. Stinksauer lief er hinter Anouschka durch die große Hotelhalle, folgte ihr zum Zimmer.
Beate saß im Bademantel auf dem Bett, und auch Anouschka zog ihr graues Kleid aus.
„Darf ich mir deinen Bademantel leihen?“, fragte sie. Rainer nickte nur.
Mit einem blütenweißen Höschen bekleidet lief Anouschka ins Bad, zog sich den Mantel über und setzte sich neben Beate. Aus ihrer Tasche holte Anouschka eine kurze Pfeife und stopfte sie gewissenhaft. Es sah aus wie ein Ritual.
Anouschka entzündete die Pfeife, sog genüsslich daran. Sie inhalierte tief und behielt den Rauch fast eine Minute in der Lunge, bis sie ihn langsam ausatmete. Dann reichte sie die Pfeife an Beate weiter, die den Rauch in gleicher Weise einsog.
Nach einigen tiefen Zügen bot Beate Rainer die Pfeife an, doch der lehnte ab. Dieser süßlich riechende Tabak war nicht sein Geschmack. Außerdem fand er es lächerlich, zu dritt aus einer Pfeife zu rauchen; er war schließlich kein Indianer.
„Er ist darin etwas altfränkisch“, hörte er Beate murmeln. Mit einiger Verzögerung begann Anouschka zu lachen. Sie schaute Rainer aus weit offenen Pupillen an, bis sie ermattet gegen Beate sank.
„Ich würde ihn in Kauf nehmen“, keuchte Anouschka atemlos, „aber Männer sind einfach zu nichts zu gebrauchen. Sie sind total entwicklungsresistent.“
Beate fand den Ausspruch lustig und lachte ebenfalls, nur Rainer rätselte an den Worten herum. Nachfragen wollte er nicht, da keine der Frauen ihn mehr beachtete. Als die beiden begannen, ihre Pfeife neu zu stopfen, verließ er das Zimmer und lief hinunter in die Hotelhalle, um Zigaretten zu kaufen.
Als er zurückkam, konnte er die Zimmertür nicht öffnen, weil er die Chipkarte vergessen hatte. Mit einem altmodischen Schlüssel wäre ihm das nicht passiert, dachte Rainer verärgert. Die Tür wurde auch nicht geöffnet, als Rainer laut klopfte.
Vermutlich hatten die beiden Frauen ihn nicht gehört, denn aus dem Zimmer drang Musik, untermalt von Beates lautem Keuchen.
Warum ihr ausgerechnet hier an der See die Bronchitis so schwer zu schaffen machte, verstand Rainer nicht.
Er hatte aber auch keine Lust, wie ein Idiot an der verschlossenen Zimmertür zu klopfen. So ging er hinunter auf den Parkplatz zu seinem Wagen, drehte die Rückenlehne flacher und versuchte zu schlafen.
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