Название: Carmen im Kopfhörer
Автор: Jochen Sommer
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783844259858
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In dem langen Schatten, den die Häuser jetzt warfen, sah Rainer einen Mann näherkommen, der eigentlich nur Ludwig sein konnte. Das modische Grau des Mantels glich dem des Straßenbelags, nur die Bewegung und der Blumenstrauß unterschieden ihn davon. Der Blumenstrauß allerdings mehr. Er war groß, in Seidenpapier verpackt, und oben schauten die Köpfe von blassrosa Nelken hervor. Sie waren das einzig Farbige an dieser Erscheinung, und Rainer dachte, dass sich Beate bestimmt über diese Blumen freuen würde.
Das Klingeln der Glocke rief ihn zur Korridortür, und aus der muffigen Luft des Treppenhauses trat Ludwig in die der Wohnung. Rainer setzte ihn auf die Couch des Wohnzimmers und holte Beate, die sich im Schlafzimmer die Lippen nachzog. Beinahe anziehend sah sie heute aus, stellte Rainer zufrieden fest. Eine Spur zu üppig vielleicht, aber das passte zu ihr.
Ludwig, der Beate schüchtern Hand und Blumen reichte, schien sich in ihrer Gegenwart ebenfalls wohl zu fühlen, denn es dauerte nicht lange, bis beide lebhaft miteinander sprachen. Rainer hielt sich rauchend im Hintergrund und beobachtete die Entwicklung seines Schlachtplans. Der Vormarsch in Frontabschnitt II kam zügig voran.
Etwas zu zügig, dachte er plötzlich eifersüchtig, denn Beates Verhalten musste man eigentlich Flirten nennen. Dreistes Flirten, korrigierte er sich, taktloses. Schließlich war er immer noch der Ehemann. Rainer drückte seine halbgerauchte Zigarette aus, nahm sich verstimmt eine neue und verbot sich, den günstigen Verlauf seines Plans zu behindern.
Sich an diese Verbot zu halten, war nicht einfach, bemerkte er in den nächsten Wochen. Ludwig war ein häufiger Gast geworden, denn seine Mutter hatte keine Einwände gegen diese Besuche. Und an den Tagen, an denen er nicht kam, versäumte es Beate nie, sich nach dem Befinden des ‚Jungen’ zu erkundigen. Sie hatte sogar begonnen, mit irgendeiner Zeitschriftendiät abzunehmen, was Rainer bei einer Frau ihres Alters einfach lächerlich fand. Lächerlich und charakterlos, denn für ihn, den Ehemann, hätte sie sich dieser Tortur niemals unterzogen.
Um nicht überflüssig und fernsehlos im Hintergrund zu sitzen, gewöhnte Rainer sich an, in ein nahe gelegenes Lokal zu gehen, wenn Ludwig kam. Zeitungslesend saß er am Tresen, beobachtete die anderen Männer, die bereits ihre Freiheit zurück hatten und wartete. Wartete auf das Nachhause gehen, wartete auf irgendein Anzeichen, dass Beate endlich auf die Idee gekommen war, ihr Verhältnis zu Ludwig in Rainers Sinn zu vervollständigen.
Eines Abends, als Rainer aus seinem Stammlokal kam, war Ludwig bereits gegangen. Beate saß Wein nippend auf der Couch, und Rainer öffnete weit die Fenster. Der Abend war schwül gewesen, Gewitterwolken zogen von West nach Ost, doch hier im Zimmer war die Schwüle besonders drückend.
Unter Beates abschätzendem Blick zog Rainer seinen Sessel näher zum Tisch und nahm sich ebenfalls ein Glas Wein. Er musste nicht erst überlegen, warum Beate ihn so abschätzig musterte, denn sie fragte sofort, wie viele Jahre sie eigentlich verheiratet seien.
„Dreiundzwanzig glückliche Jahre, Schatz“, antwortete Rainer und war sicher, dass er die Kampfzone bald würde ausweiten können.
„Dreiundzwanzig Jahre“, nickte Beate und nahm ein Schlückchen aus ihrem Glas, „dreiundzwanzig Jahre Glück.“
„Glück und Treue“, betonte Rainer. „Das ist eine lange Zeit. Eine sehr lange Zeit.“
Beate legte die Arme breit auf die Rückenlehne der Couch und sagte: „Ich glaube, dass nichts dieses Glück gefährden könnte.“
„Nein“, lächelte Rainer und achtete darauf, dass sein Lächeln nicht triumphierend wirkte, „nichts. Dafür sind wir zu alt.“
Zu alt war sie eigentlich nicht, dachte Beate, als sie am nächsten Nachmittag beim Friseur saß und in den bunten Zeitschriften blätterte, die dort auf dem Tisch lagen.
Nur ein bisschen altmodisch kam sie sich im Augenblick vor. ‚Durch Horst erst lernte ich meinen Mann wieder lieben’, schrieb da eine Leserin dem Zeitschriftenpsychologen. In den übrigen Heften fand sie ähnliche Berichte, in denen alte Ehen durch Impulse von außen aufgefrischt wurden.
Auch ihrer eigenen Ehe, fand Beate, täte eine Auffrischung bestimmt gut, denn Rainers Gleichgültigkeit hatte in den letzten Wochen deutlich zugenommen. Er kam offenbar nicht mehr auf die Idee, dass sie, Beate, auch für andere Männer attraktiv sein könnte. Es war kein Kompliment, wenn Rainer sie bedenkenlos mit Ludwig allein ließ und lieber in dieses stickige Lokal ging.
Beleidigend, stellte Beate fest, war Rainers Vertrauen in jedem Fall. Und beleidigen ließe sie sich nicht.
Der Count-down hatte begonnen; das spürte Rainer, ging zum Abteilungsleiter und beantragte Urlaub für die Zeit danach. Er hielt es für klüger, in den ersten Wochen nach der Trennung nicht greifbar zu sein, einfach fortzufahren, bis sich Beate an ein Leben ohne ihn gewöhnt hatte. Mallorca oder Gran Canaria schien ihm weit genug. Schäkernd und frei würde er an tropischen Tresen sitzen und sein Leben neu planen.
Doch zuerst galt es Beate zu überführen. Die Abende, an denen Ludwig kam, schieden aus; dafür war Rainers Rückkehr aus seinem Stammlokal zu unregelmäßig. Zu regelmäßigen Zeiten kam er nur aus dem Büro zurück. Also würde es während der Arbeitszeit geschehen, folgerte Rainer.
Es war ein Donnerstag, an dem Ludwig nicht im Büro erschien.
„Der ist mal wieder beim Arzt“, sagte ein Kollege zu Rainer, als der in der Mittagspause erst Ludwigs Abwesenheit bemerkte.
„Seltsam“, sagte Rainer, „mir ist heute auch elend.“ Er meldete sich schnell krank und fuhr nach Hause.
Der Tag schien wie jeder andere zu sein. Rainer parkte sein Auto vor dem Haus, registrierte die von der Schule heimkehrenden Nachbarskinder und ließ sich Zeit. Ludwig saß in der Falle und konnte ihm nicht entkommen.
Hinter der Wohnungstür im Erdgeschoss dröhnte laute Musik – Beethoven. Rainer fand das angemessen und schritt auch so die Treppen empor.
Als er die Korridortür öffnete, sah er Beate, die sich, einen Packen Bettwäsche auf dem Arm, durch die Schlafzimmertür zwängte.
„Du bist schon da?“, lächelte sie betroffen und stopfte die Wäsche in die Waschmaschine. Dann begrüßte sie ihn, wie sie ihn seit der Verlobungszeit nicht mehr begrüßt hatte.
Rainer befreite sich mühsam und schritt misstrauisch durch die Wohnung. Doch Ludwig fand er nicht. Weder in den Zimmern, noch in den Schränken oder unter den Betten.
Ludwig begegnete ihm erst wieder am nächsten Morgen, als der mit einem Versetzungsantrag zum Personalbüro ging.
„Die Arbeit im Archiv hat mich schon immer interessiert“, murmelte Ludwig und deutete auf die Papiere in seiner Hand. Er sah heute ziemlich blass aus.
Rainer dachte an die unerfüllten Hoffnungen, die er in diesen jungen Mann gesetzt hatte und sagte abweisend: „Ich glaube, die Ruhe da unten wird Ihnen guttun, gesundheitlich.“
Das glaubte Ludwig inzwischen auch. Für einen Vormittag wie den gestrigen bei Beate war er eben nicht geschaffen. Wäre er doch bloß zum Arzt gegangen.
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