Название: Rapsgezeiten
Автор: Katrin Maren Schulz
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783844255782
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Später lockt mich mein Hunger in die ‚Arche Noah‘, das Pfahlbaurestaurant am Strandabschnitt von Bad. Ein Restaurant auf meterhohen Pfählen. Wie auf Stelzen. Alles am Strand hier, von dem wenigen, was da steht, steht auf Stelzen: die Häuschen der Badeaufsicht, die Toilettenbauten, die Restaurants. Das Wasser macht das notwendig - wenn es denn da ist, mit der Flut kommt, um im Hochwasser zu gipfeln. Jetzt, hier, ist es weg. Es ist Ebbe. So sitze ich hoch oben im Pfahlbau, und unter mir liegt der trockene Strand. Vor mir der grandiose Blick über die Weite, das Watt, die See.
Von so hoch oben betrachtet wirkt das Leben luftig und leicht.
Ist es doch auch, oder?
Dankbarkeit macht sich in mir breit. Dankbarkeit darüber, Bestandteil dieses großen Ganzen zu sein. Bestandteil dieser Freiheit und Unendlichkeit hier. Sie scheint auf die Gedanken überzuschwappen wie die Flut über den Strand. Irgendwie kommt es, dass ich plötzlich ‚Happy Birthday’ vor mich hin summe. Unerklärlich, unbegründet eigentlich. Oder doch?
Auf dem Heimweg mache ich Halt in Bad. Schlendere durch die touristische Fußgängerzone, mit ihren Geschäften voller Nordsee-Nippes; der zieht mich magisch an. Kaufe mir eine Piratentasse. Touristenkitsch, ja. Aber sie wird mich noch oft an diesen Tag erinnern.
Psychologen sagen, dass dieser Kult um personifizierte Tassen daher kommt, dass das Trinken daraus dem Küssen ähnelt, und das Küssen wiederum ein Ausdruck des Liebens ist. Vielleicht kann ich die Nordsee küssen, in Berlin, durch diese Piratentasse hindurch.
Tag 4
Eigentlich wollte ich heute nach Friedrichstadt. Aber mir ist gar nicht mehr nach Stadt zumute.
Tag 5
Den Morgenkaffee nehme ich inzwischen auf der Gartenterrasse meines Häuschens zu mir. Etwas Dunst liegt noch über der Landschaft, es tschilpt und zwitschert in den Bäumen. Ab und zu krächzt eine Möwe. Sie fliegt dahin wie meine Urlaubszeit, erschreckend schnell.
Fühle mich unbeschreiblich wohl hier. Das war einmal mein Traum, was ich da gerade lebe, wenn auch nur für kurze Zeit: allein an der Nordsee zu sein, an einem Ort, der mich ergreift, durch und durch. Nun ist er Wirklichkeit, der Traum. Und ich will ihn mit Leben füllen, so viel es nur geht.
Nach drei Tagen am Ordinger Strandabschnitt zieht es mich heute zu einem anderen: dem Böhler Strand. Er ist ruhiger, und menschenleerer.
Als ich ankomme, ist das Wasser gerade dabei, sich zurückzuziehen, und Platz zu machen für die Ebbe. Es hinterlässt dann das, was vorher noch Meeresgrund war: einen welligen Sandboden, der hart ist vom Wasser, das er noch in sich trägt, und in dem die Wattwürmer ihre Spaghettihäufchen hinterlassen. Kleine Krebse tummeln sich in Pfützen, in denen sich die Sonne spiegelt.
Das Wasser hat ein paar Reste dagelassen: Treibgut, Hinterlassenschaften menschlicher Umtriebigkeit am und im Meer. Ich mache Fotos von den skulpturhaften Gebilden. Eine Kiste aus Holland, zu erkennen an dem Aufdruck in Niederländisch, umwickelt von Algen, in denen wiederum Muscheln hängen geblieben sind. Zwei unterschiedliche Schuhe, die jemand vor mir nebeneinander gestellt hat, als seien sie ein Paar. Sie müssen eine lange Zeit im Salzwasser verbracht haben; ihr Leder ist löchrig und überwuchert von etwas weißem, Pockenartigem. Daneben Reste von Fischernetzen, in denen sich Algen, Federn, Äste und Muscheln verfangen haben. Die aufgedröselten Enden der Schnüre wirken wie greisenhafte Haare. Ich mag das Bunte der Netze, meist sind sie mehrfarbig, orange und türkis und grün und blau. Mit dieser Farbenpracht stechen sie aus dem sanften Beige-Grau des Watts heraus.
Die Formen des Treibguts heben sich von der ebenen Fläche des Watts ab. Außer den Prielen gibt es sonst nichts, was Orientierung oder gar Wegweisung bieten könnte. Vielleicht ist es das, was mich hier so fasziniert: das nicht-vorhanden-Sein vorgegebener Wege. Das Dasein im Watt lässt jeden Schritt zu, jede Gerade, jede Kurve. Weil es keine Wege hat, die einem vorgeben, wo es lang geht. Alles ist möglich hier, jede Richtung, jede Gangart.
Als würde es mir mitteilen wollen: deine Möglichkeiten sind grenzenlos.
Sind sie das, wirklich? Gilt das auch für meinen Lebensentwurf, und mögliche Veränderungen? Die Vorstellung macht mir Angst. Denn vor der Wahrnehmung von Möglichkeiten steht die Entscheidung dafür. Vielleicht reicht ja zunächst die Wahrnehmung dessen, dass sie da sind, die vielen Möglichkeiten, völlig aus. Vielleicht ist es das, was mir der Strand heute mitteilen möchte. Und wenn ich einfach stehen bleibe, und mich am Anblick der Möglichkeiten erfreue.
Vielleicht reicht das schon aus, zum glücklich und zufrieden sein.
Am Abend ist Dorffest, inmitten des friedlichen, fast puppenstubenhaften Reetdachhausidylls. Die Hauptstraße durch den Ortsteil Dorf, die sonst recht früh am Abend ruhig wird, ist nun bevölkert von Ständen, Buden und Menschen. Fühle mich wie eine Voyeurin, wenn ich allein durch die Menge von Familien und Paaren gehe. Eine Voyeurin der Zwischenmenschlichkeiten, die sich da um mich herum abspielen: zärtliche und aggressive, liebevolle und streitende, harmonische und meinungsverschiedene Zwischenmenschlichkeiten. Aus all dem bin ich außen vor, und kann beobachten, wenn ich mag, oder Augen und Ohren abwenden, wenn ich nicht mag.
Bevor ich diese Reise antrat, fragte mich ein Bekannter entsetzt, wie ich denn zehn Tage allein sein wolle, freiwillig? Das müsse doch furchtbar sein, und langweilig.
„Warum?“ habe ich ihn gefragt.
„Weil du dann doch zu niemandem sagen kannst: sieh mal, der schöne Sonnenuntergang!“
Und in diesem Moment wurden ihm seine Worte selbst bewusst, einschließlich ihrer Lächerlichkeit. Und wir wussten beide, dass der Sonnenuntergang immer schön ist: wenn ich ihn allein sehe, oder wenn ich ihn mit jemandem zusammen sehe. Allein sehe ich ihn intensiver. Vielleicht ist er dann sogar schöner.
Wenn ich diese Zwischenmenschlichkeiten wahrnehme auf dem Stadtfest, dann vermisse ich nichts, im Gegenteil: bin froh, nicht Bestandteil irgendeines dieser menschlichen Knäuel zu sein. Sondern mit mir hier, und mit mir kann ich gehen, wohin ich will, und bleiben, solange ich will.
Ein kräftiger Beat kommt aus einem Hof. Ein Junge und ein Mädchen, um die 18 vielleicht, sind hinter ihren riesigen Schlagzeugen zu erkennen, die sie leidenschaftlich mit ihren Stöcken bearbeiten. Der Rhythmus ergreift mich, und die Klanggebilde, die aus ihm entstehen. Hole mir ein Bier, setze mich auf den Rasen am Rand des Hofes, und höre zu.
Die Situation erinnert mich an improvisierte Straßenmusiker-Szenen in Berlin. Plötzlich verschwimmen Berlinleben und Nordseeleben, vermengen sich. Neulich in der Bar der Surfschule ging es mir auch so. Als würden mein Stadtleben und mein Wunsch nach Nordseeleben in diesen Momenten verschmelzen zu einer friedlichen Einheit. Darin empfinde nicht mehr ich mich fremd inmitten dieser Touristen, sondern mich als echt, und die Touristen fremd. Es bestärkt. Mich an diesem Ort.
Zunehmend fühle ich mich stimmig hier. Passend, authentisch. Mein Wunsch nach einem neuen Tattoo fällt mir wieder ein. Die kommen immer dann, die Tattoo-Ideen, wenn es mir besonders gut geht. Und wenn etwas Neues passiert ist in meinem Leben, das zu diesem Gutgehen beiträgt. So wie dieser Urlaub. Ich werde mal einen Entwurf skizzieren. Bald mal, im Strandkorb. Irgendwann.
Tag 6
Fahre nach Husum heute. Mit der Bahn quer durch die Halbinsel Eiderstedt ein Stück des Weges zurück, auf dem ich vor wenigen Tagen angekommen bin. Durch flaches Land, voller Schafe, Kühe, Gänse. Hasen hoppeln dazwischen durch.
Nach einer knappen Stunde Fahrt СКАЧАТЬ