Das Problem wird noch verschärft durch die dürftige Entlohnung der Künstler durch Streaming-Anbieter wie Spotify. Der Musiker David Byrne klagt: „Eine Band mit vier Mitgliedern, die eine 15-Prozent-Ausschüttung aus Spotify-Streams erhält, müsste demnach auf 236 549 020 Streams pro Person kommen, um den amerikanischen Mindestlohn von 15 080 Dollar pro Jahr zu verdienen […] Sollten Künstler in Zukunft tatsächlich zum Großteil auf Einnahmen aus diesen Diensten angewiesen sein, können sie nach spätestens einem Jahr ihren Job wechseln. Sicher, einige von uns verfügen noch über andere Einnahmequellen, Live-Konzerte etwa […] Aber gerade die noch nicht so bekannten Nachwuchskünstler haben diesen Vorteil nicht – einige haben den Punkt noch nicht erreicht, an dem sie ihren Lebensunterhalt mit Einnahmen aus Live-Auftritten und Lizenzierung ihrer Songs bestreiten können“ (SZ, 5.11.2013). [66] Im Verlauf des Siegeszuges von Spotify wurde auch der Unmut über dessen Geschäftsgebaren lauter, was zahlreiche Musiker zum Boykott veranlasste. Weltweites Aufsehen erregte die Entfernung des kompletten Repertoires von Popstar Talyor Swift aus dem Spotify-Programm.[67]
Waldvogel erkennt im Gegensatz zu den Abgesängen auf den unabhängigen Mittelbau ein Erstarken der Independent Labels, die im Kontrast zu den Major-Labels und dank der neuen Produktions- und Distributionsmöglichkeiten kostengünstiger und flexibler auf die digitale Herausforderung reagieren könnten und weniger auf Quersubventionierung neuer Künstler durch Superstars angewiesen seien: „The data provide support for the idea that independent labels are playing an increasing role […] While the share of the top 100 on independent labels was 50 percent in both the 1980s and the 1990s, it rose to 60 percent in the period since 1999” (Waldvogel 2011, 29). Dieses Ergebnis scheint die These von der Demokratisierung der Musikindustrie zu unterstützen, jedoch bleibt zu bedenken, dass wir es hier mit einer Auswertung qualitativer Urteile (Musikrezensionen) zu tun haben, die sich nicht so einfach in veränderte ökonomische Machtverhältnisse übersetzen lassen. Gleichzeitig verweist er auf die laut Handke (2006) steigende Zahl der Label-Neugründungen in Deutschland. Aber eine steigende Zahl an Labels ist ebenso wenig ein für sich genommen aussagekräftiger Indikator für die Situation und Entwicklung in der Branche wie die simple Zahl der Neuerscheinungen (siehe oben).
Die Frage bleibt, wie der nachgewiesene Anstieg von Independent-Produktionen in den Hitlisten zu bewerten ist. Er lässt zwar sicher den Schluss zu, dass die Digitalisierung neue Möglichkeiten der unabhängigen Produktion und Distribution bietet, entkräftet aber noch nicht die These von der Spaltung der Branche. Eine noch verstärkte Konzentration der Majors auf absolute Superstars ließe den Indies evtl. mehr Aufmerksamkeit, Platz und gute Kritiken (die sie schon immer hatten), ohne aber eindeutig als ökonomischer Sieger dazustehen. Isoliert betrachtet sind auch das recht widersprüchliche Kennziffern eines noch in Entstehung befindlichen Bildes, das erneut sowohl Effekte der Machtkonzentration als auch Demokratisierung andeutet und im größeren Zusammenhang betrachtet werden muss. Die Diskrepanz und der zweifelhafte Zusammenhang zwischen Journalistenhitlisten, vermeintlicher Qualität und ökonomischem Erfolg wird deutlich, wenn man die Zahlen einer Studien im Auftrag der europäischen „Independent Music Companies Association (IMPALA) betrachtet. Gemäß dieser Zahlen generieren die vier Majors 86% der Top 200 Download-Umsätze in Europa und erreichen dabei ein Airplay von 88,8 %. Noch eindeutiger werden die Ergebnisse, wenn man die Top 100 Download- und Airplay-Charts betrachtet, von denen 94 bzw. 95% (!) auf die Majors fallen. Nun könnte man meinen, bei einer Erweiterung der Auswahl würde sich das Bild ändern, aber erstaunlicherweise steigt der Anteil der Majors bei den Top 1000 mit über 90 % im Vergleich zu den Top 200 sogar noch an (Legrand 2012).
Berücksichtigt man dann noch, dass mit Adele eine ökonomische Ausnahmeerscheinung (u.a. Nr. 1 der Longplay-Jahrescharts in Deutschland 2011) bei einem Indie (Indigo) unter Vertrag steht, alleine ¼ des Independent-Gesamtumsatzes (!) ausmacht und somit das vernichtende Bild etwas kosmetisch verschönert, so wird deutlich, dass von einer Demokratisierung im Sinne ökonomischer Machtverlagerung zumindest im Feld des Recorded Music Marktes nicht die Rede sein kann. Eher scheint der digitale Verkauf die Spaltung zu forcieren. Der Anteil der Indies am Gesamtumsatz aller Verkäufe (analog + digital) beläuft sich noch auf ca. knapp 20%, schrumpfte aber um die Hälfte von zu Hochzeiten 40%. Gleichzeitig produzieren sie aber 80 % der Neuveröffentlichungen (ebd.). Bei einer derartigen Übermacht der Major-Firmen in diesem Sektor mag die Situation für „unabhängige“ Künstler und Labels im Konzertbereich etwas besser sein, wenn auch das nicht geklärt ist. In jedem Fall stehen auch dort leeren Konzerthallen bei unbekannteren Bands exorbitante Ticketpreise bei Superstars gegenüber.
Die Argumentation der Majors, sinkende Umsatzzahlen würden zu nachlassender Investition in neue Künstler führen, ist jedenfalls mit Vorsicht zu genießen, galt doch das Entdecken von Talenten immer eher als Aufgabe der in den Subkulturen beheimateten Indies, oder wie es Impala auf der Homepage in Eigenwerbung aber nicht ganz unrichtig beschreibt, die „independents are the innovators and early adopters, discovering new talent and producing 80% of all new releases” (impalasite.org/). Die Studie von Impala deutet auf ein hochgradig zersplittertes Feld von Klein- und Kleinst-Künstlern und Labels, denen es trotz der Möglichkeiten des Internets an den Strukturen fehlt, genügend Aufmerksamkeit zu generieren, um der omnipräsenten Marktmacht der „Multis“ etwas entgegenzusetzen. Diese Strukturen benötigen möglicherweise ein Maß an Professionalität, was sich wohl nur schwerlich in Teilzeit erreichen lässt. Und das könnte sich durch die Beteiligung der Majors an den neuen Streaming-Anbietern wie Spotify noch verstärken: „If the bigger labels are shareholders in the service, I must say I'm sceptical. Even major-label artists could be shortchanged, as they're not allowed to know on what basis or what rate they're paid due to NDAs. Is this really the price music creators must pay for free enterprise?” (Lindvall, 1.11.2011).
Wie wir gesehen haben, ergibt das Wirrwarr an Zahlen aus verschiedenen Quellen zu verschiedenen Bereichen und mit verschiedenen Interessen ein hochgradig uneinheitliches Bild zur Lage der Musikindustrie und vor allem der von allen Seiten zur „bedrohten Art“ erkorenen Musiker. Aufschlussreich wären daher Zahlen zur Einkommenssituation der Musiker, die, unabhängig von einzelnen funktionalen oder dysfunktionalen Geschäftsmodellen, einen Eindruck ermöglichen, ob sich deren ökonomische Situation nachhaltig verschlechtert, wie vermutet, oder gar verbessert hat. Christian Hufgard, erster Vorsitzender der Musikpiraten, tut genau das und betrachtet in seiner „Kurzstudie: Einkommensentwicklung der Kreativen in Deutschland seit 1995“ (Hufgard 2012) die Einkommensentwicklung von Kreativen in Deutschland auf Basis der Zahlen der Künstlersozialkasse (KSK).
Danach seien die Einkommen aller Kreativen bis auf den Bereich Wort, der um 1,3 Prozent gefallen sei, im Durchschnitt inflationsbereinig seit 1995 gestiegen, was ihn zu dem wenig überraschenden Fazit verleitet: „Das Internet ist ganz eindeutig nicht der Untergang der Kreativen. Es gab zwar Anpassungsschwierigkeiten, diese haben aber vor allem Rechteverwerter getroffen, die sehr träge auf den sich ändernden Markt reagiert haben. Die Auswirkungen auf die Situation der Künstler waren im Gegenteil dazu mehrheitlich positiv“ (Hufgard 2012, 6). Das Argument der Trägheit sollte sich in der DA als ein zentraler Kritikpunkt an der Kulturindustrie herausstellen. Für die deutlich schlechteren Zahlen der GEMA macht er deren einseitige Abhängigkeit vom Tonträgergeschäft verantwortlich, sieht aber im Angesicht des rasant wachsenden Digitalmarktes auch hier Hoffnung baldiger Besserung (vgl. ebd.).
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