Название: Ströme meines Ozeans
Автор: Ole R. Börgdahl
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783847621058
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Paris, 20. Dezember 1892
Es ist schade, dass Victor gerade in der Vorweihnachtszeit so selten zu Hause ist. Dieser Leverne meldet sich immer zu den unangenehmen Arbeiten und gibt sie dann an Victor weiter, sie zu erledigen. Letzte Woche sollte Victor die Einladungen und das Programm für eine große Stabskonferenz ausarbeiten. Die Konferenz sollte noch diesen Monat stattfinden, so hatte es Leverne zumindest an Victor weitergegeben und Victor hat an drei Abenden bis spät in die Nacht in der Kaserne gearbeitet, um es noch zu schaffen. Dann stellte sich heraus, dass der Brigadegeneral das Treffen von Anfang an erst für den März des nächsten Jahres anberaumt hatte. Dies alles grenzt schon an Schikane. Victor lässt es sich gefallen, weil er von diesem Leverne abhängig ist. Ich hoffe nur, das Weihnachtsfest bleibt ungestört, wo wir doch auch unseren zweiten Hochzeitstag feiern wollen.
1893
Paris, 3. Januar 1893
Kurz nach Weihnachten hatten wir Besuch aus Vannes, Pierre und Jacques waren in Paris. Sie haben uns ihre neuesten Pläne mitgeteilt. Es kam völlig überraschend, die beiden wollen nach Amerika auswandern. Ihr Ziel ist New York oder Chicago. In Chicago findet in diesem Jahr eine Weltausstellung statt und es soll daher leicht sein, dort Arbeit zu finden. Schon im April wollen sie mit dem Schiff über den Atlantik fahren. Ich musste sofort an Tante Carla und Onkel Joseph denken. Beide Söhne wandern nach Amerika aus. Jacques hat sich ein paar Magazine von mir geliehen, er will unbedingt so schnell wie möglich Englisch lernen. Pierre ist davon überzeugt, vorerst auch mit seiner Muttersprache in Amerika durchzukommen, wo es dort doch so viele französische Gemeinden geben soll. Ich hoffe wir sehen die beiden noch einmal vor ihrer Abreise.
Paris, 10. Januar 1893
Ich hatte heute ein Gespräch mit Monsieur Rolland. Ich kann wieder bei ihm anfangen. Er kann mich brauchen, weil Madame Riuné ausgeschieden ist. Sie ist zu ihrem Sohn nach Marseille gezogen. Ich werde jetzt aber nur noch im Verkauf arbeiten, da während meiner Abwesenheit jemand anderes für die Buchhaltung eingestellt wurde. Wenn ich ehrlich bin, dann ist mir das eigentlich ganz recht. Ich soll schon in der nächsten Woche beginnen, gleich am Montag.
Paris, 20. Januar 1893
Die erste Woche im Juwelierladen ist vorüber. Ich habe mich sehr schnell wieder eingefunden. Es scheint fast schon von Vorteil für mich zu sein, dass Madame Riuné fort ist. Es ist nicht so, dass ich sie nicht gemocht hätte, aber ich bin ohne sie viel gelöster. Ich habe keine Angst mehr, Fehler zu machen. Madame Riuné hat immer sehr darauf geachtet, Monsieur Rolland ist da weit weniger streng. Er lässt mich gewähren und ich zahle es ihm zurück, indem ich mit Erfolg verkaufe. Das ist mir auch schon gleich in dieser ersten Woche gelungen. Monsieur Rolland und ich haben uns die Kunden aufgeteilt. Er bedient vor allem die Damen und ich zumeist die Herren.
Paris, 1. Februar 1893
Gestern Abend ist Victor ganz aufgelöst vom Dienst gekommen. Er hat sich erst nichts anmerken lassen, ist dann aber doch damit herausgekommen. Er hatte ein unangenehmes Gespräch mit diesem Leverne, es ging um Victors Vergangenheit. Leverne wusste alles, alles über Victors Vater, über Victors Zeit in Saint-Cyr, über seinen Aufstieg zum Lieutenant und über die Zeit bei Colonel Dubois. Leverne besaß sogar eine Liste der Einsätze, die Victor in Nantes geleitet hat. Dies alles ist wohl nicht so schlimm, schlimmer ist es, dass Leverne behauptete, Victors Mutter sei Jüdin gewesen. Victor weiß überhaupt nicht, woher dies kommt, mit welchem Recht dieser Leverne so etwas behaupten kann. Leverne hat Victor dann noch auf das Genaueste befragt und gerade dies fand Victor so empörend. Aber Victor konnte natürlich nicht aufbegehren, er ist von dem Mann abhängig. Das Gespräch endete mit der Befragung, aber Victor vermutet, dass noch etwas nachkommt. Es muss eine Absicht dahinterstehen, dass Leverne sich so genau über ihn erkundigt hat und dass dies nichts Gutes sein kann.
Paris, 17. Februar 1893
Ein ganzer Packen des Strand Magazines ist jetzt bei mir eingetroffen. Mutter hat gut aufgepasst und entdeckt, dass Mr. Doyle wieder aktiv geworden ist und für seinen Holmes neue Abenteuer erdichtet hat, obwohl, ist es wirklich Dichtung, ist es nicht vielleicht doch Wahrheit und Mr. Doyle selbst ist Sherlock Holmes oder gar Dr. Watson. Vielleicht ist alles in der einen oder anderen Weise so geschehen. Ich könnte es mir gut vorstellen. Jetzt liegen mir jedenfalls drei neue Geschichten vor und ich habe Mutter geschrieben, sie solle weiterhin wachsam sein und am besten das Strand Magazine für mich abonnieren.
Paris, 3. März 1893
Ich sehne dem Frühling entgegen. Paris im Frühling war mir von jeher der schönste Ort und die schönste Jahreszeit. In vier Wochen ist Ostern, ich freue mich schon auf einen Osterspaziergang im Grünen.
Paris, 15. März 1893
Mehr als einen Monat war Ruhe und Victor schien auch wieder Freude an seiner Arbeit gefunden zu haben. Dann ist aber doch wieder etwas vorgefallen. Victor hat mir sofort davon erzählt, aber er kann nichts unternehmen, es ist eine Sache zwischen ihm und diesem Leverne. Gestern wurde Victor zu Leverne gerufen. Leverne hielt einen Brief in den Händen, einen alten Brief. Die Geschichte ist ganz einfach erzählt. Victor kam nach dem Tod seiner Mutter als Säugling in die Familie einer Freundin seiner Mutter. Sein Vater hat ihn nämlich erst zu sich geholt, als Victor schon fünf war. Die Freundin seiner Mutter war Jüdin, verheiratet mit einem Rabbiner. Victor hat es dort sehr gut gehabt, er kann sich sogar noch an die Leute erinnern, sie hatten selbst zwei oder drei Kinder. Nach dem zweiten Schicksalsschlag, als Victors Vater im Krieg gefallen ist, haben die Behörden ihn zunächst in ein Waisenhaus gegeben. Es war aber nur für ein paar Wochen, dann hat ihn ein Freund seines Vaters, Monsieur Gransagne, zu sich genommen und ihn später auf ein Internat in Paris geschickt. Victor hat mir schon oft von Monsieur Gransagne erzählt, dem einzigen Menschen, den Victor nach dem Tod seines Vaters noch hatte. Aber da gab es ja noch die Freundin seiner Mutter, und während Victor für kurze Zeit im Waisenhaus war, hat sich deren Ehemann gemeldet. Der Rabbiner hat an das Waisenhaus geschrieben und angeboten, Victor wieder zu sich in die Familie zu nehmen. Soweit ist es dann aber nicht gekommen, zuvor wurde Victor nämlich schon von Monsieur Gransagne abgeholt. Der Brief existiert allerdings bis heute und das hat Victor gestern erfahren, und zwar von keinem anderen als diesem Leverne, der irgendwie an den Brief gekommen ist und ihn Victor gestern präsentiert hat. Leverne wollte von Victor wissen, ob er Jude sei und wenn ja, warum er sich als Christ ausgibt. Genau das soll der Wortlaut gewesen sein. Victor weiß nichts davon, dass seine Mutter Jüdin war. Victor versteht es nicht, er versteht auch nicht, was dies heute für eine Rolle spielt. Ich habe Victor geraten, sich zu beschweren. Es geht diesen Leverne doch überhaupt nichts an. Was macht es aus, ob Victor Jude ist oder nicht. Außerdem ist diese Frage schon längst beantwortet, denn Victor wurde als Christ getauft, wurde als Christ erzogen und hat mich in einer christlichen Kirche vor einem christlichen Pfarrer geheiratet.
Paris, 22. März 1893
Leverne hat seit einer Woche nichts mehr zu dem Thema gesagt. Victor war die ersten Tage, nachdem ihm der Brief und die Anschuldigungen vorgetragen wurden СКАЧАТЬ