Paul Natorp: Johann Heinrich Pestalozzi, Sein Leben und seine Ideen. Paul Natorp
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СКАЧАТЬ besonders seines sittlichen Lebens, insofern (nach späterem Ausdruck) „Werk seiner selbst“ ist, so sind auch die äußeren Lebensformen, in denen und durch die er sich bildet, im letzten Grunde sein eigenes Werk. Es sind die mannigfachen Formen menschlicher Gemeinschaft, von der engsten zu weiteren und weiteren hinauf bis zur höchsten, der des Menschengeschlechtes unter dem himmlischen Vater. Diese Stufenordnung der Gemeinschaftsformen – eine der tiefsten und weittragendsten Voraussetzungen der Pestalozzischen Pädagogik, durch die besonders sie als „soziale“ und nicht bloß individuale Pädagogik charakterisiert wird – tritt ebenfalls schon in der „Abendstunde“ klar zutage. Und zwar von der engsten Gemeinschaft, der des Hauses, der Familie geht die Bildung des Menschen notwendig aus; denn „immer ist tue ausgebildete Kraft einer näheren Beziehung Quelle der Weisheit und Kraft des Menschen für entferntere Beziehungen... Die häuslichen Verhältnisse der Menschheit sind die ersten und vorzüglichsten Verhältnisse der Natur“, eben weil die engsten und nächsten und damit kraftvollsten, daher gerade der ersten, überhaupt entscheidenden Entwicklung der menschlichen Kräfte günstigsten. Nur ihr vergrößertes Abbild ist der bürgerliche Verein, gleichsam eine Familie von Familien: „Vatersinn bildet Regenten, Brudersinn Bürger; beide erzeugen Ordnung im Hause und im Staat.“ Die bürgerliche Gemeinschaft stellt also gleich der häuslichen, nur auf höherer Stufe, eine Arbeits- und damit Bildungsgemeinschaft dar. Über ihr erhebt sich endlich als höchste Form der Gemeinschaft jene ideelle Gemeinschaft des ganzen Menschengeschlechtes, in der wir alle Kinder eines Vaters und damit untereinander Brüder sind. Auch die tiefe, rein moralische Deutung der Religion aus diesem Gesichtspunkt, wie sie in der „Abendstunde“ bereits vorliegt, kehrt von da ab in immer neuen und schöneren Wendungen durch alle Lebensperioden Pestalozzis wieder.

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      „Lienhard und Gertrude“

      „Lienhard und Gertrude“

       War die „Abendstunde“ nur für wenige geschrieben, so wandte sich die zweite Hauptschrift dieser Zeit, der Roman „Lienhard und Gertrud“, als „Volksbuch“ an die weitesten Kreise und besonders an das niedere, arbeitende Volk. Er erschien, zunächst in einem Bändchen, zur Ostermesse 1781 und fand sofort lebhaften Anklang. Literarisch angesehen, ist es ein erster, sehr gelungener Versuch in reiner „Heimatkunst“. Das Leben des Volkes ist dargestellt ganz in der eigenen Denk-, Empfindungs- und Sprechweise des Volkes selbst, nicht wie von einem fremden, äußeren Beobachter. Hatte doch Pestalozzi in und mit dem Volke gelebt und alle seine Nöte an eigener Haut erfahren wie selten einer. Und zwar ist dieser erste Teil fast rein darstellend. Auf Volksbelehrung zwar geht die letzte Absicht, aber die Lehre verbirgt sich weise in reine, höchst lebendige und packende Geschichte; allenfalls dass sie hier und da wie unversehens im Gespräch – denn die ganze Fassung ist fast noch mehr dramatisch als erzählend – sich auch einmal direkt äußert. So tritt das Leben des unter schwachem Regiment hauptsächlich durch den schlimmen „Vogt“ (Schulzen) Hummel tief gesunkenen Schweizerdorfes Bonnal greifbar, in regster Bewegung dem Leser vor Augen. Man blickt fast in jede seiner ärmlichen Hütten hinein; das Dorfvolk zeigt sich im Alltags- und Sonntagskleid, bei der Arbeit und beim Geschwätz, daheim und auf der Gasse, im Wirtshaus und in der Kirche, in der Barbierstube, in der Gemeindeversammlung, am Totenbett usf. An grellen Lichtern und tiefen Schatten ist nicht gespart; neben den gemütvollen, etwas zu rührsamen Szenen in den Stuben der Gertrud und des Rudi stehen in oft hartem Kontrast die abgefeimten Schurkereien des Vogts und die Jämmerlichkeiten seiner prachtvoll gezeichneten Mitlumpen, der unheimlich komische Auftritt, wie der Vogt aus Rache in mitternächtiger Stunde dem Schlossherrn im tiefen Walde einen Markstein versetzen will und der gerade des Weges kommende Hühnerträger mit dem Windlicht als Teufel in Person den Entsetzten den Berg hinabjagt. Der frische Realismus der Darstellung begreift sich zum Teil daraus, dass Pestalozzi vielfach Gestalten aus dem Leben, natürlich mit Freiheit, nachgezeichnet hat; zum Vogt hat der oben erwähnte Merki Modell gesessen, zur Gertrud die Lisabeth usf. So wirkt alles wie unmittelbar aus dem Leben gegriffen; die Vorgänge, die ganze Milieuschilderung sind zugleich ein derart typischer Ausdruck damals weit verbreiteter Zustände, dass beinahe jedes Dorf seine Leute in den Figuren des Romans wiederzuerkennen meinte.

      Indessen ihm war es nicht genug, bloß den gegebenen, oft traurigen Zustand wahrheitsgetreu dargestellt zu haben; es galt, zu den Quellen der Übel aufzusteigen. Es war gezeigt: so ist es; aber nun fragte es sich: Warum ist es so? Und wie kann man machen, dass es anders werde? Diese weitere Absicht führte zu den ursprünglich wohl nicht geplanten Fortsetzungen des Romans und dann zu dem zweiten Volksbuch „Christoph und Else“, das ganz eigentlich einen Kommentar zum ersten Teil von „Lienhard und Gertrud“ darstellt, nämlich zur Erzählung die direkte Lehre hinzufügt.

       Zunächst enthält der zweite Teil des Romans (1783) in der Hauptsache die Vorführung, wie es zu den im ersten gezeichneten schlimmen Zuständen hatte kommen können, besonders in Gestalt der eingehenden Lebensbeschreibung des Vogts Hummel, in dem das Verderben des ganzen Dorfes sich gewissermaßen zusammenfasst. Diese Geschichte beleuchtet vor allem die harte Wahrheit, dass jeder in die gleiche Schlechtigkeit versinken kann, wenn er in Lagen gerät, die geeignet sind, „den Samen des Bösen in ihm so zu entwickeln, wie aus einer einzigen Kornähre ein ganzes Viertel Frucht werden kann“. „Die Umstände machen den Menschen.“ Eine schneidende Kritik der üblichen Justiz liegt in der ganzen Vorführung eingeschlossen. Pestalozzi arbeitete in derselben Zeit an der hochbedeutenden Studie über „Gesetzgebung und Kindermord“; da waren ihm jene grause Wahrheit und die Ohnmacht der bisherigen Justiz gegen sie in erschütternder Stärke entgegengetreten. Es ist auffallend, wie Pestalozzi hier die wesentlichsten Gedanken der modernen Kriminologie erreicht: dass der Gesellschaft am Verbrechen nicht nur die Mitschuld, sondern geradezu die Hauptschuld zufällt, und dass die Behandlung des Verbrechers einzig darauf gerichtet sein muss, ihn zum sozialen Leben wieder tauglich zu machen, dass sie nichts anderes sein soll als „rückführende Schule des verirrten Menschen in die Bahn und den Zustand, in welchem er gewesen wäre ohne seine Verirrung“.

       Kein Wunder, dass eine so harte Rede niemand gerne hören mochte. Schon der zweite Teil des Romans fand weit geringeren Anklang als der erste. Im dritten (1785) geht es endlich an die Heilung der Schäden. Er ist daher für den Pädagogen eigentlich der wichtigste. Es ist gewissermaßen ein Handbuch der sozialen Pädagogik, nicht in trockenen Lehrsätzen, sondern in anschaulicher Vorführung am typischen Fall des durch weise Maßnahmen einer gerechten und wohlwollenden Regierung, hauptsächlich aber durch die eigenen, noch nicht ganz zugrunde gerichteten Kräfte des Volkes selbst, durch das stille und sichere Wirken einer kleinen Zahl treu verbundener Männer und Frauen in ihm aus tiefstem Elend sich langsam wieder emporarbeitenden Spinnerdorfs. Die sozialen Bedingungen der Erziehung rücken hier besonders in helles Licht, und auf diesem sozialen Hintergrunde baut dann die Hauserziehung der Gertrud und die ihr treulich nachgebildete Schulerziehung des Glülphi sich umso wirksamer auf; beide greifen so ganz unmittelbar ein in das Leben, in das Arbeitsleben des ganzen Dorfes.

       Zuerst kommt es darauf an, die äußere Lage der unteren Volksschichten zu bessern, die notwendigsten wirtschaftlichen Vorbedingungen für ihre geistige und sittliche Hebung zu schaffen, denn „im Sumpf des Elends wird der Mensch kein Mensch“. Aber dazu muss vor allem die eigene Tätigkeit des Volkes aufgerufen und kräftig in Anspruch genommen werden; alle Hilfe, die man ihm bietet, darf nur Hilfe zur Selbsthilfe sein. Einer solchen Hilfe bedurfte es allerdings bei der gegebenen Lage. In einem stabilen Zustand, bei überwiegend ländlicher Arbeit gibt es eine ständige Fortpflanzung der sehr einfachen und stetigen, diesem Zustand genügenden Bildung des Landvolkes. Erst die große, damals bereits allenthalben sich ankündigende Umwälzung der Wirtschaft vom Landbau zur Industrie war es, die eine ernste Krise auch in der Erziehung des arbeitenden Volkes heraufgeführt hatte. Das unvermittelte, unvorbereitete Eindringen der Industriearbeit und des Industrieverdienstes in eine bloß auf den Feldbau innerlich eingerichtete und gerüstete Bevölkerung, das war der Nährboden, in dem alle sozialen Übel wuchern konnten. Da also mussten Gesetzgebung und Erziehung mit genau ineinandergreifenden Maßregeln einsetzen. Aus diesem Zusammenhang begreift es sich, weshalb Pestalozzi in СКАЧАТЬ