Название: Wahre Kriminalfälle und Skandale
Автор: Walter Brendel
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783754936580
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Die Memminger Justizpraxis, konstatierte die SPD-Landtagsabgeordnete Hedda Jungfer, "ist beispiellos in der Geschichte der Kriminalisierung von Frauen seit der Reform des Paragraphen 218". In der Tat: Anderswo stellen Staatsanwälte derlei Ermittlungsverfahren - falls es überhaupt dazu kommt - in der Regel wegen geringer Schuld und mangelndes öffentliches Interesse ein.
Viele Juristen sehen in der Situation unfreiwillig schwanger gewordener Frauen geradezu den Musterfall für die Anwendung jenes Paragraphen 153 der Strafprozessordnung, der die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens wegen geringfügigen Verschuldens ermöglicht.
So gab es in Rheinland-Pfalz 1985 überhaupt keine Verfahren wegen Abtreibung, 1986 eins und 1987 zwei, von denen eines eingestellt wurde. Zurzeit ist in Koblenz ein einschlägiges Ermittlungsverfahren gegen einen Arzt anhängig, der 1440 Abtreibungen vorgenommen haben soll. Gegen keine der betroffenen Frauen wird auch nur ermittelt.
In Hessen liefen 1985 sechs Ermittlungsverfahren, 1986 vier und 1987 fünf - in der Mehrzahl gegen Ärzte. Alle Verfahren wurden eingestellt. In Schleswig-Holstein gab es in den letzten drei Jahren nur zwei Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf illegalen Schwangerschaftsabbruch, im Saarland fünf. Alle endeten mit Einstellung.
In West-Berlin werden solche Ermittlungsverfahren amtlich gar nicht erst gezählt. Verurteilungen in den letzten drei Jahren: null.
In Nordrhein-Westfalen kamen 1985 bis 1987 insgesamt 14 einschlägige Verfahren bis vor Gericht. Acht wurden eingestellt, drei endeten mit Freispruch, zwei mit einer Geldstrafe und eines mit einem Zuchtmittel nach dem Jugendgerichtsgesetz. Baden-Württemberg führt keine speziellen Statistiken über Abtreibungsverfahren - pro Jahr gibt es dort etwa eine Verurteilung.
Ganz anders war die Gangart in Memmingen. Was immer dort gegen die Frauen und ihren Arzt an Ermittlungsergebnissen zusammengetragen und den Beschuldigten vor Gericht jetzt vorgehalten wurde, geht auf eine einzige Quelle zurück – die Patientenkartei des Doktor Theissen. Auch alle späteren Ergebnisse aus den Vernehmungen der Frauen, der Praxishilfen und des angeklagten Gynäkologen beruhen letztlich auf Vorhalten, die ihrerseits aus den Notizen in der Arztkartei abgeleitet sind.
Dieser Umstand könnte bewirken, dass alle Strafurteile im Umfeld des Theissen-Falles hinfällig werden, weil die Art und Weise der Beweismaterialbeschaffung womöglich unzulässig war.
"Es ging hier nicht um die Durchsuchung einer Tankstelle oder eines Gemüseladens", argumentiert der Frankfurter Strafverteidiger und Theissen-Anwalt Sebastian Cobler. War die Beschaffung der Beweismittel unzulässig, weil sie gegen verfassungsrechtlich geschützte Grundrechte von Beteiligten verstieß, dürfen die Beweise nicht verwertet werden.
Die Patientenkartei jedes Arztes und insbesondere die eines Gynäkologen enthält sensible Daten aus dem Persönlichkeits- und Intimbereich von Patienten. Was dem Arzt von seinen Patienten anvertraut wird oder was er aufgrund seiner ärztlichen Tätigkeit erfährt, ist grundsätzlich gegenüber Dritten geschützt, weil anders ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient - Grundlage jeder Beratung und Behandlung - nicht herstellbar ist.
Eingriffe von Staatsorganen in diesen Schutzbereich sind nur dann rechtmäßig, wenn die Schwere der angenommenen Straftat und der Bruch des Arztgeheimnisses in einem vertretbaren Verhältnis stehen. Keineswegs müssen oder dürfen alle Straftaten um jeden Preis aufgeklärt werden. Im Gegenteil: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der einer Strafverfolgung im Einzelfall durchaus Grenzen setzen kann, hat seinerseits Verfassungsrang.
Im Theissen-Fall ging es zunächst nur um den - anonym geäußerten - Verdacht der Steuerhinterziehung, mithin keineswegs um ein Kapitalverbrechen. Er richtete sich nur gegen den Arzt, nicht aber gegen dessen Patientinnen.
Diesem Verdacht hätte die Justiz pflichtgemäß nachgehen können und müssen, ohne dabei in eine Patientenkartei mit sensiblen Daten Dritter einzubrechen. Eine steuerliche Betriebsprüfung hätte womöglich schon ausgereicht oder, wie Verteidiger Cobler meint, die Kontaktaufnahme des Finanzamts mit dem Steuerberater des Arztes, um ihm zunächst eine - strafbefreiende - Selbstanzeige wegen Steuerverkürzung zu ermöglichen.
Den Antrag der Theissen-Verteidiger, das Verfahren einzustellen, weil die Beschlagnahme der Patientenkartei verfassungswidrig und die Beweismittel deshalb unverwertbar seien, hat die Memminger Strafkammer schon am zweiten Verhandlungstag zurückgewiesen. Die bayrischen Richter der ersten Instanz wollen sich das so spektakulär gestartete Verfahren nicht mehr aus den Händen winden lassen.
Ob ihr Urteil aber auch in der Revisionsinstanz noch Bestand haben wird, scheint zweifelhaft. In einem vergleichbaren Fall hat das Bundesverfassungsgericht 1977 die Beschlagnahme der Klientenkartei einer Aachener Drogenberatungsstelle für verfassungswidrig erklärt, weil es in dieser Art der Beweisbeschaffung zur Überführung von Drogentätern einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sah.
Wahrscheinlich müssen viele der Frauen, die mit dem Strafbefehl das Juristengezerre um ihre Zwangslage endlich hinter sich glaubten, im Theissen-Prozess nun doch noch vor Gericht - als Zeuginnen. Soweit ihre eigenen Verfahren bereits rechtskräftig abgeschlossen sind, haben sie ihr Recht eingebüßt, die Aussage zu Tatgeschehen und Hintergrund zu verweigern.
Albert Barner, damals 60, der Vorsitzende Richter der 1. Strafkammer, hat diesen Frauen mit "beiliegendem Freikuvert" für die Antworten einen Fragebogen von zehn Seiten Länge zugeschickt, "um Ihnen die mit einer Befragung in einer öffentlichen Hauptverhandlung verbundenen Unannehmlichkeiten nach Möglichkeit zu ersparen".
Was so rücksichtsvoll intoniert scheint, wird sich in Wahrheit zur womöglich schlimmsten Tortur für die betroffenen Frauen auswachsen. Schon die schriftlichen Fragen sparen kein intimes Detail aus.
Im Anschreiben zu der monströsen Liste von weit über hundert Fragen, die "binnen 14 Tagen" zu beantworten waren, mahnt der Richter "rein vorsorglich", dass sich die Betroffenen schon bei unvollständiger Beantwortung strafbar machen könnten.
Zu beantworten waren nicht nur Fragen nach eigenem Einkommen ("Bescheinigung über Lohn, Gehalt, Rente oder Arbeitslosenunterstützung beifügen") und Vermögen ("Sparguthaben, Grundbesitz, Aktien u.a."), sondern auch gleiche Fragen zu "Ehemann/Partner", "Erzeuger", "Kindern" und "Eltern" - jeweils "bitte Bescheinigungen beifügen".
Den Richter interessierten Schulden-Ursachen wie Gesundheitszustände, Vertrauenspersonen beim Arbeitgeber, Wohnungsgröße und Beziehungsdauer, Hausärzte alle nahen Verwandten und Betreuungsmöglichkeiten "durch Geschwister oder Freunde", am meisten aber die Frage, ob denn die Zeuginnen bereit sind, Ärzte und Schwangerschaftsberater von der Schweigepflicht zu entbinden. Und: "Durch wen wurde die Zeugin darauf hingewiesen, dass Dr. Theissen möglicherweise einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen werde?"
Frauen, die sich weigern, bei dieser Ausforschung ihrer Privatsphäre mitzuwirken, drohte Richter Barner unverhüllt: Wer eine Frage auch nur teilweise unrichtig oder unvollständig "zum Vorteil von Herrn Dr. Theissen" beantworten sollte, könne sich ein neues Strafverfahren - diesmal wegen Strafvereitelung - einhandeln.
Aber auch wer alle Fragen beantwortet, muss mit der Vorladung in den Zeugenstand rechnen. Denn jede Aussage, die von früheren Bekundungen im Vorverfahren abweicht, wird entweder Ankläger oder Verteidiger zur Vorladung dieser Zeugin veranlassen, je nachdem, ob nun die Abweichung im Einzelfall zugunsten oder zu Lasten von Dr. Theissen ausfällt - praktisch also in jedem Fall. Auch wenn nur der Staatsanwalt oder nur der Verteidiger auf der Zeugenvernehmung besteht, muss die Zeugin mündlich vernommen werden.
Entscheidend für den Prozessausgang ist die Frage, ob in den angeklagten Fällen eine Indikationslage СКАЧАТЬ