Название: Sexy Zeiten - 1968 etc.
Автор: Stefan Koenig
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Zeitreise-Roman
isbn: 9783742739810
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Ein Jahr später arbeitete ich diese Aussage in mein Geschichtsreferat ein: „Die Marshallplan-Hilfe entspricht heute rund 129 Milliarden Dollar. Damit schufen sich die USA wirtschaftlich-politischen Einfluss und sicherten sich langfristig einen großen westeuropäischen Absatzmarkt für ihre Waren und Ideologien.“ Mein sozialdemokratischer Sozialkunde- und Geschichtslehrer gab mir darauf eine „ungenügend“. Er war sechs Jahre zuvor aus der „Zone“ geflohen.
*
Am Marshallbrunnen saßen all die Outlaws, die Beatniks, Hippies, Gammler und Provos. Dort hatte Kurt, einer der ewigen Langzeit-Studenten, einen sogenannten wilden Bücherstand aufgebaut. Er wurde wohl geduldet, denn die Bullen ließen ihn in Ruhe. Bei ihm gab es längst jene Bücher, die zu dieser Zeit noch keine der normalen Buchhandlungen in ihrem Sortiment führte. Ich hatte von meinem 10-DM-Taschengeld im Laufe der Monate etwas zusammengespart und kaufte jede Woche bei Kurt mindesten ein Buch im Wert von fünf bis acht Mark. Ein wirkliches Taschengeld-Opfer. Ansonsten saßen wir am Brunnen und gammelten.
»Gammeln« war ein neuer Lebensstil, das war Ausbruch pur. Wir wollten raus aus der absoluten Leistungsgesellschaft, der schulischen „Leistungshysterie“, in der wir uns bereits in jungen Jahren nur als kleine Rädchen in einem undurchschaubaren Getriebe vorkamen. Und Noten waren Scheiße. Wie konnte Mensch sich erdreisten, andere Menschen zu benoten! Was ein autoritärer Kack!
Die Gammler von Frankfurt trugen wie die Gammler in München, Hamburg oder Westberlin Zottelhaar, Militärjacken, Parkas, Fellwesten und Fellmützen, Ketten und Amulette. Jacken und Parkas waren meist aus amerikanischen Armeebeständen, die mit Parolen wie Ban The Bomb, Namen von Beatbands und dem Ostermarschabzeichen versehen wurden. Die männlichen Vertreter dieser Spezies trugen Bart. Am Opernplatz traf sich der Frankfurter Ableger jener einzigartigen Subkultur, die sich durch lässige Haltung und Vorliebe für Beat- und Folkmusik auszeichnete. Aber sie stand für keine politischen Inhalte, die über eine Verweigerungshaltung hinausgingen. Deutsche und ausländische Beatniks und Gammler hatten hier ihr Durchgangslager vor ihren Reisen in fremde Länder aufgeschlagen. Für den Spießbürger waren es schmarotzende Arbeitsverweigerer. Und so wurden wir mit ausdrucksstarken Worten bedacht: „Adolf hätte euch in Arbeitslager geschickt!“
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Nun war ich kein echter Gammler, denn ich war als Gymnasiast fest im Würgegriff der bürgerlichen Gesellschaft. Aber ich hatte Haare, die waren so schrecklich lang – so „lang“ wie die Haare der Beatles, jener „Affen“, die mit afrikanischer Trommelmusik nur Unheil in den Köpfen der Jugend anrichteten – wie Nachbarn, Tanten, Onkel und manche Pauker meinten. Dabei reichten meine Haare noch nicht einmal bis zu den Schultern.
Als ich einmal zu Fuß unterwegs in die Stadt war, fuhr plötzlich ein LKW langsamer und dann im Schritttempo mit mir auf einer Höhe. Gleich darauf wurde auf der Beifahrerseite die Scheibe runtergekurbelt und ein stoppelhaariger Prolet warf mir einen Groschen mit den Worten zu: „Spar mal auf‘n Friseur!“ Solche Erlebnisse teilten wir uns am Marshallbrunnen natürlich mit, und es stellte sich heraus, dass dieser Satz wohl unabdingbarer Bestandteil unseres blutjungen Lebens sein sollte: „Geh mal zum Friseur!“
Eines Tages kam mein Vater vom Friseur, der hieß Oskar. Die beiden waren gleichaltrig und kannten sich aus frühen Zeiten und vom Sportverein. Irgendwie war Vater an diesem Abend komisch. Ich hatte bisher vor den Eltern geheim halten können, dass ich mich am Marshallbrunnen rumtrieb.
„Machst du da bei den Nichtsnutzen vom Opernplatz mit?“, fragte er mich.
„Nein, wieso?“
„Irgendjemand hat dich dort wohl gesehen“, antwortete mein Vater.
Ich schüttelte den Kopf und stammelte, dass ich nur mal dort vorbeigekommen bin. Aber ich war ein schlechter Lügner, und Otto sah mich scharf an. „Ich will nicht belogen werden. Merk dir das!“
Damit war die Sache erledigt. Später erfuhr ich von Pit, der nur zwei Tage später beim selben Friseur war, dass mein Vater dort die Tränen nicht mehr an sich halten konnte, als er von Oskar erfuhr, wo ich mich rumtrieb. „Ich hab ihn doch so ordentlich erzogen!“, soll er gesagt haben. Das war mir voll peinlich. Aber „Ordnung und Sauberkeit“ waren nun mal die alles bedeutenden Messwerte jener grauen Zeit.
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Mein Vater war nach dem frühen Tod seines Vaters von seiner Mutter alleine großgezogen worden. Da entstand eine sehr enge Bindung. Daher rührte wahrscheinlich jene schwiegermütterliche Eifersucht auf meine Mama. Otto musste nun der alleinige Versorger für seine Mutter werden und suchte sich einen schnell zu erlernenden Beruf aus. Er wurde 1925 Maurer. Einige Jahre später wechselte er auf die sichere Staatsseite und ging zur Baupolizei. Wiederum etwas später wurde er Staffelführer bei der Bereitschaftspolizei.
In jenem Jahr 1966 befragte ich ihn zu seiner Polizeierfahrung und ließ mir Anekdoten aus seiner Einsatzzeit erzählen. Was bei mir tief im Gedächtnis und als politische Erfahrung hängen blieb, war folgendes Gespräch.
„Was war der aufregendste Einsatz, den du leiten musstest?“, fragte ich meinen Vater.
„Das war der Einsatz in Köln 1932. Ich befehligte zwei Hundertschaften, die dort eine Demo der KPD von der einen Aufmarschseite her absichern sollten. Von der anderen Seite hatte sich eine unangemeldete NSDAP-Marschkolonne in Gang gesetzt, um die gegnerische KPD-Demonstration zu stören und zu zerschlagen. Ich rief meinen Vorgesetzten im Präsidium an. Da hielt sich gerade unser erster Bundeskanzler, Konrad Adenauer, auf; der war damals Oberbürgermeister von Köln. Ich fragte, ob es nicht sinnvoll sei, mit meinen Hundertschaften zwischen die beiden Fronten zu gehen, die sich aufeinander zu bewegten, was zu bösen Auseinandersetzungen mit vielen Verletzten und vielleicht sogar mit Toten enden könnte. Man beriet sich dort kurz und übermittelte mir nach zirka zehn Minuten den Befehl, ich solle die Parteien aufeinander losschlagen lassen und nur zusehen, dass nicht die Geschäfte ringsum in Mitleidenschaft gezogen würden. Wenn sich Rechte und Linke gegeneinander aufrieben, dann brauche der Staat nur zusehen. Ich fand, dass dies eine grobe Fehlentscheidung war. Das Resultat waren zwei Tote auf Seiten der Rot-Front-Leute und über sechzig Verletzte, darunter zwölf Schwerverletzte.“
Mein Vater war damals Mitglied der SPD.
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Hanna und ich erzählten uns unsere Familiengeschichten und fanden es spannend herauszufinden, wie sich „die Alten“ damals im »Tausendjährigen Reich«, das zwölf Jahre währte, wohl verhalten hatten. Wir entdeckten von Treffen zu Treffen immer neue, manchmal recht überraschende Nuancen unserer Familiengeschichten, und da wir im Geschichtsunterricht laut Lehrplan gerade die Nazizeit durchkauten, war es für uns besonders spannend. Das war zwar keineswegs ein erotisches, vielmehr ein ernüchternd lehrreiches Thema. Und dennoch sprachen wir – meistens nach unseren knutschreichen Liebeleien – gerne über die Erfahrungen mit unseren Familien.
Noch mehr aber sprachen wir in jener wolkenbe-deckten Augustwoche über die sinnentleerten Wohlstandsideale und wie man andere Ideale an deren Stelle setzen könnte. Da gab es die Gegenkultur der Hippies, der Blumenkinder, die sich seit 1965 rasant von San Francisco aus über die westliche Hemisphäre der Jugendlichen verbreitet hatte.
„Schatzi“, СКАЧАТЬ