Название: Der Schrei des Subjekts
Автор: Franz Josef Hinkelammert
Издательство: Bookwire
Жанр: Философия
isbn: 9783738051421
isbn:
Das Problem von Johannes ist daher das Gesetz, nicht die Sinnlichkeit. Im Evangelium stellt er dies auch noch in einem andern Zusammenhang dar, nämlich angesichts der Geschichte von einem anderen Wunder, näamlich der Heilung eines Blinden:
“Und im Vorbeigehen erblickte er einen Menschen, der von Geburt an blind war. Und seine Jünger fragten ihn: Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren wurde? Jesus antwortete: Weder dieser hat gesündigt noch seine Eltern.” (Joh 9, 1-2)
Hier taucht jetzt im naturalistischen Gewande wieder die Vorstellung auf, daß im Zentrum des Lebens und der Sünde die Gesetzesverletzung steht. Im Extrem wird Blindheit als Strafe für eine solche Sünde aufgefaßt. Die Erzählung geht daher weiter und Jesus heilt den Blinden. Jetzt aber wird der Geheilte verfolgt:
“Nun nahmen sie ihn mit zu den Pharisäern, ihn, den ehemals Blinden. Es war aber Sabbat an dem Tage, an welchem Jesus den Teig gemacht und seine Augen geöffnet hatte. Wiederum fragten ihn nun die Pharisäer, wie er sehend geworden sei. Er sprach zu ihnen: Er hat einen Teig auf meine Augen gelegt, und ich habe mich gewaschen und nun sehe ich. Da sagten einige von den Pharisäern: Dieser Mensch ist nicht von Gott, weil er den Sabbat nicht hält.” (Joh 9, 13-16)
Jetzt hat Jesus das Gesetz verletzt, und seine Gegener klagen ihn an wegen dieser Gesetzesverletzung. Vorher hatte die Ehebrecherin das Gesetz verletzt. Jesus sagte, daß das eine Sünde ist, aber er verurteilt sie nicht. Sie sündigt, aber sie begeht nicht die Sünde. Die Sünde begehen diejenigen, die sie steinigen wollen und zwar in Erfüllung des Gesetzes. Es ist die Sünde, die man begeht, wenn man von der Welt ist. Jetzt aber verletzt Jesus das Gesetz. Diese Gesetzesverletzung aber gilt dem Johannes als legitim. Sie ist nicht deshalb legitim, weil es Jesus ist der das tut. Sie ist legitim, weil diese Gesetzesverletzung einen Kranken heilt. Das Gesetz darf sich nicht dem menschlichen Leben in den Weg stellen. Steht es ihm im Weg, verliert es seine Geltung. Es handelt sich nicht einmal um eine Extremsituation. Jesus hätte den Blinden schließlich genauso am Tag vor oder nach dem Sabbat heilen können. Hier wird das Leben ganz einfach über das Gesetz gestellt. Seine Gegner aber wenden sich gegen ihn im Namen der Erfüllung des Gesetzes. Jesus wirft daher die Sünde denen vor, die die Erfüllung des Gesetzes vertreten. Er tut dies mit sehr harten Worten:
“Hierauf sprach Jesus: Zu einem Gericht bin ich in diese Welt gekommen, damit die, die nicht sehen, sehend und die Sehenden blind werden. Das hörten einige von den Pharisäern, die bei ihm standen, und sagten zu ihm: Sind etwa auch wir blind? Jesus sprach zu ihnen: Wenn ihr blind wäret, so hättet ihr keine Sünde. Nun aber sagt ihr: Wir sehen. Eure Sünde bleibt.” (Joh 9, 39-41)
Jesus wirft ihnen die Sünde vor. Das ist nicht das “sündige nicht mehr”, das er gegenüber der Ehebrecherin sagt, ohne sie zu verurteilen. Jetzt verurteilt er, denn es wird die Sünde begangen. Es ist die Sünde, die die Blindheit der Sehenden begeht. Es ist die Blindheit derer, die zu sehen glauben, aber nicht sehen.
Jesus hat das Gesetz verletzt. Aber er hat es verletzt, weil er sehend ist. Wer sieht, sieht , was sich dem Leben des Menschen in den Weg stellt und sieht es als Hindernis, über das er sich erhebt. Aus der Sicht der Blindheit der Sehenden aber ist dies eine Gesetzesverletzung. Sie begehen das, was Jesus die Sünde im Singular nennt. Sie begehen nicht Sünden, sondern die Sünde.
Damit nähern wir uns dem an, was Jesus sagt, wenn er davon spricht, “von der Welt” oder “nicht von der Welt” zu sein. Jesus verletzt das Gesetz, weil er “nicht von der Welt” ist. Diejenigen aber, die ihn im Namen der Erfüllung des Gesetzes verurteilen, tuen dies, weil sie “von der Welt” sind. Von der Welt sein, heißt töten wollen. Aber sie töten, damit das Gesetz erfüllt wird. Der Mord, den sie begehen, verletzt nicht das Gesetz, sondern ist durch seine Erfüllung gefordert. Er muß begangen werden, damit das Gesetz erfüllt wird. Dieser Mord ist das Zentrum dessen, was es heißt, von der Welt zu sein.
Für das Gesetz ist die Verletzung des Sabbats eine Sünde, die bestraft wird. Soweit derjenige, der das Gesetz verletzt hat, akzeptiert, daß er es verletzt hat und damit ein Unrecht begangen hat, wird das verletzte Gesetz durch die Strafe wieder hergestellt. Jesus hingegen verletzt das Gesetz des Sabbats, wenn man es aus der Sicht seiner formalen Erfüllung betrachtet. Aber er besteht darauf, daß diese Verletzung legitim und daher Pflicht ist. In diesem Sinne besteht er darauf, daß er das Gesetz nicht etwa verletzt hat, sondern ganz im Gegenteil erfüllt hat. Er hat das menschliche Leben geachtet und danach gehandelt. Folglich hat er überhaupt kein Unrecht begangen, weil dieses Leben über dem Gesetz steht, das ein Gesetz ist, das für das Leben gegeben wurde. Er besteht darauf, daß er den Sabbat nicht etwa abschafft, sondern, indem er das formale Gesetz des Sabbats bricht, den Sabbat erfüllt. Er will den Sabbat nicht abschaffen. Aber die Heiligung des Sabbats geht verloren, wenn man das Gesetz des Sabbats nicht in einem Fall wie der Heilung des Blinden unterbricht.
Vom formalen Standpunkt des Gesetzes jedoch geschieht ein Gesetzesbruch, der bestraft werden muß. Indem aber Jesus darauf besteht, daß es sich gar nicht um eine Sünde handelt, sondern daß die Gesetzesverletzung aus der Erfüllung des Gesetzes als eines Gesetzes für das Leben folgt, hat er alle Beziehung zum Gesetz in Frage gestellt. Das Gesetz ist jetzt einem Unterscheidungskriterium unterworfen, das durch keine Autorität und keinen Gesetzgeber ersetzt werden kann: Um das Gesetz zu erfüllen, muß man es verletzen, sobald es sich dem Leben dessen in den Weg stellt, von dem die Erfüllung des Gesetzes gefordert wird. In letzter Instanz entscheidet das Subjekt über das Gesetz. Jesus fordert Souveränität des lebenden Subjekts gegenüber dem Gesetz.
Tatsächlich handelt es sich nicht um eine einfache Gesetzesverletzung, sondern um die Negation jedes Apriorismus der Geltung von formalen Rechtnormen, ganz unabhängig davon, wer der Gesetzgeber ist: sei es das Gesetz Gottes, das Gesetz der Vernunft, irgendeiner sonstigen Autorität des Königs oder auch eines demokratischen Gesetzgebers. Der Mensch als Subjekt bleibt souverän. Indem das Gesetzesdenken derer, die sich gegen Jesus stellen, in diesem Sinne legalistisch ist, muß aus deren Sicht die Haltung Jesu Rebellion gegen das Gesetz sein. Soweit das Gesetz als Gesetz Gottes gilt, gilt diese Haltung als Blasphemie. Daher werden sie alles Gewicht des Gesetzes gegen ihn einsetzen, das nicht das Gewicht irgendeines verletzten spezifischen Gesetzes ist, sondern des Gesetzes als solchem und daher der formalen Gesetzlichkeit als solcher. Wo aus der Sicht des Menschen als lebendem Subjekt die Sünde begangen wird, die in der Erfüllung des Gesetzes geschieht, erscheint dieses Subjekt aus der Sicht des Gesetzeslegalismus als rebellisches Subjekt, ein Produkt des Hochmuts und der Hybris und seine Sünde ist Blasfemie, die darin besteht, sein zu wollen wie Gott. Daher reagiert das Gesetz auf gewaltsame Art.
Im Evangelium des Johannes dient die Bezugnahme auf den Sabbat dazu, diese Sünde aufzuzeigen, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird. “Der Mensch ist nicht für den Sabbat da, sondern der Sabbat ist für den Menschen da.” Dieser Satz drückt auch das aus, was Johannes sagt. Er kann sehr gut die Position Jesu zusammenfassen, wen wir in Betracht ziehen, daß Jesus dieses Verhältnis auf alle Gesetze und alle Gesetzlichkeit ausdehnt.
Das Wertgesetz und die Sünde, die in Erfüllung des Gesetzes begangen wird
In den synoptischen Evangelien nimmt Jesus ebenfalls eine solche Position ein gegenüber dem Sabbat. Die gleiche Position nimmt er ebenfalls ein gegenüber dem Wertgesetz, dem Markt und dem Geld. Er tut dies insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Schulden und der Schuldenzahlung. Schulden bezahlen zu müssen, ist Gesetz. Es ist ein Gesetz, das sich direkt aus dem Wertgesetz ableitet und daher ein Ergebnis der Unterwerfung des Menschen unter das Wertgesetz ist. Wo das Wertgesetz auftaucht, taucht auch der Kredit auf und mit diesem die Unvermeidlichkeit der Zahlung von Schulden. Sobald daher das Wertgesetz sich in legaler Form СКАЧАТЬ