Blühende Zeiten - 1989 etc.. Stefan Koenig
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Название: Blühende Zeiten - 1989 etc.

Автор: Stefan Koenig

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия: Zeitreise-Roman

isbn: 9783752925869

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СКАЧАТЬ Situation und wird mich und die Familie auf Dauer schrecklich belasten.“

      Ich musste in diesem Moment an eine Geschichte denken, die wir in der Realschule als Fünfzehnjährige für eine Deutscharbeit als Erörterung bearbeiten sollten:

      Anfang des 19. Jahrhunderts. Ein Uhrmacher, Ende vierzig, Vater von fünf Kindern, hat vom Pastor den Auftrag erhalten, die defekte Kirchturmuhr zu reparieren, was nur von außen mittels zwei Steigleitern geschehen kann. Der Vater bittet Johann, seinen ältesten Sohn, mit ihm hinaufzusteigen, da er jemanden braucht, der ihm die Werkzeuge reicht. Der Sohn hat dies schon sehr oft gemacht; er ist wie sein Vater Uhrmacher, ist schwindelfrei und hat an verschiedenen Rathäusern und Kirchen bereits selbständig oder mit seinem Vater in schwindelerregenden Höhen gearbeitet.

      Die Arbeit in luftiger Höhe ist für die Kleinstadt ein besonderes Ereignis und so haben sich viele Mitbürger, Kaufleute und Händler, die rund um den Marktplatz wohnen oder ihre Geschäfte betreiben, eingefunden, um das Geschehen zu verfolgen. Die Uhr ist in 60 Meter Höhe angebracht, und man muss mit zwei Leitern arbeiten, wobei die untere immer nach oben mitgezogen werden muss. Der erfahrene Uhrmacher steigt die erste Leiter hinauf. Als er am Ende der oberen Leiter angekommen ist, wartet er ab, bis sein Sohn auf der unteren Sprosse steht und die darunter hängende Leiter heraufzieht, um sie ihm hochzureichen. Er wiederum hängt die Leiter unter höchster Konzentration und Kraftanstrengung, aber mit Ruhe und Geschick, in die oben angebrachten Halterungen ein.

      Beide haben jetzt zwei Drittel der Strecke geschafft und befinden sich auf circa 40 Höhenmetern. Plötzlich sehen die Zuschauer auf dem Marktplatz, wie der Jüngere auf der Leiter unterhalb des Älteren auszurutschen scheint. Ein Aufschrei geht durch die Menge. Aber der junge Mann fängt sich wieder, klammert sich jetzt aber mit einer Hand am Hosenbein des Vaters fest. Die Leute hier unten hören nicht, was der Vater den Sohn fragt.

      „Was ist los mit dir?“

      „Vater, ich kann nicht mehr. Mir ist schwindlig und ich habe das Gefühl, gleich abzustürzen.“

      Der Alte bleibt ruhig und sagt: „Schau nicht nach unten. Wir halten inne. Ruhe dich aus und atme tief ein und aus.“

      „Um mich herum dreht sich alles, Vater, ich kann hier nicht stehen bleiben. Ich rutsche gleich ab.“

      „Reiß dich zusammen und behalte einen klaren Kopf. Der Schwindel geht wieder vorbei.“ Er fühlt, wie sich sein Sohn an sein Bein klammert und spürt das schwere Gewicht seines fünfundzwanzigjährigen Sohnes. „Du darfst dich nicht an mich klammern. Halte dich an der Leiter fest und schau nicht nach unten!“, sagt er jetzt mit lauter, fester, bestimmter Stimme.

      „Wohin ich auch schaue, alles dreht sich um mich herum“, schreit der Sohn verzweifelt seinem Vater zu.

      „Warte noch einen Moment und denke, dass sich nichts wirklich dreht. Es ist alles nur wie eine Illusion. Es geht vorüber.“

      Unten verharren die Zuschauer in angsterfüllter Stille. Sie hören nur die fernen Stimmen, ohne sie zu verstehen. Sie sehen nur, dass es nicht weitergeht mit Vater und Sohn.

      Der Sohn klammert sich weiter an das Bein des Vaters. Er ergreift jetzt auch das zweite Bein seines Vaters. Das Gewicht wird immer schwerer, das an dem alten Uhrmacher zerrt. Der Vater spürt, wie seine Kraft erschlafft.

      „Du reißt mich in die Tiefe!“, ruft der Vater dem Sohn zu. „Halte dich ganz fest an der Leiter. Aber lass mich los. Wir müssen hier warten, bis es dir besser geht.“

      Der Vater überdenkt die Situation blitzschnell. Er kann das Gewicht seines Sohnes nicht mehr länger halten. Der Schwindelanfall wird nicht in einigen Minuten vorüber sein. Schon einige Sekunden geraten jetzt zu einer gefühlten Ewigkeit. Er wird seinen Sohn höchstens noch eine halbe Minute an sich geklammert ertragen können. Dann wird seine Kraft erschöpft sein und sie werden beide abstürzen. Sein Sohn wird ihn mit in die Tiefe reißen. Er muss handeln.

      Der Vater denkt an seine vier anderen Kinder, die beiden jüngsten sind acht und vierzehn Jahre alt, die beiden älteren, 20 und 22 Jahre; sie haben noch keine Arbeit und helfen im Haushalt mit. Der Uhrmacher denkt an seine alte, kranke Mutter und an seine Frau, die ohne ihn weder ihre Schwiegermutter noch die Kinder ernähren kann. Wenn die Familie ihre beiden ältesten Männer verliert, ist es das größte Unglück überhaupt. Wenn nur einer von ihnen beiden hier oben überlebt, ist es sehr schlimm, aber der Überlebende kann zumindest noch für die Familie sorgen.

      Was soll er tun? Der Sohn hat nun sein ganzes Gewicht an die Beine seines Vaters gehängt und sagt, dass sich immer noch alles um ihn herum dreht und er sich nicht halten kann. Der Vater entschließt sich zu einer übermenschlichen Entscheidung und schleudert mit einem Bein seinen Sohn von sich. Der Schrei des abstürzenden jungen Mannes wird übertönt vom vielstimmigen Aufschrei der unten stehenden Menge, die dem Geschehen ratlos zusieht.

      Der Abgestürzte ist auf der Stelle tot und wird unter Wehklagen, aber auch mit Wutgeschrei geborgen. Die Menschen schauen nach oben und sehen, wie der alte Uhrmacher jetzt sehr langsam nach unten absteigt, wie er jeweils die Leitern bedachtsam mit nach unten nimmt. Als er unten ankommt, bricht er zusammen und ist nicht ansprechbar. Einige wollen ihn sofort lynchen, aber die Mehrheit schützt ihn und sagt, dass er einen fairen Prozess bekommen möge. Man wolle erst wissen, was sich da oben abgespielt habe.

      Soweit also lautete der Text, den wir damals als Schüler erörtern und als „Richter“ beurteilen sollten: Wenn Sie als Richter über den alten Uhrmacher zu urteilen hätten, wie würde ihr Urteil ausfallen und wie würden Sie das Urteil begründen?

      Als ich Lutz das Gleichnis erzählt hatte, sah er mich mit großen Augen an. „Du empfiehlst, ich solle Kai von mir abschütteln?“

      „Ich kann dir nur meine Haltung verdeutlichen. In meinem ethischen Weltbild hat die Mehrheit Vorrang vor dem Einzelnen. Wenn ich vier Personen retten kann und dadurch einen Menschen verliere – und die schreckliche Alternative wäre alle fünf zu verlieren – dann würde ich mich für vier und gegen einen entscheiden. Und dann kommt es freilich auf die Situation an, wenn es um die Frage geht, wer das Opfer für die anderen sein muss.“

      „Gut, dass ich nicht vor solch einer Frage stehe“, sagte Lutz.

      „Sag das nicht. Man kann auch daran denken, jemanden nur auf Zeit »abzuschütteln« – wenn man dieses unschöne Wort benutzen will. Die Frage ist, wie viel dein Adoptivsohn zerstört und ob er euch tatsächlich in den Abgrund reißt. Vielleicht gibt es eine mildere Alternative, die es gestattet, dass ihr erst einmal Abstand voneinander gewinnt. Ich denke an eine therapeutische Wohngemeinschaft für Kai.“

      Ich konnte nicht im Geringsten ahnen, dass mich dieses fürchterliche Gleichnis in zwanzig Jahren noch einmal im realen Leben einholen und ich vor einer ähnlichen Entscheidung stehen würde, ohne ihr entfliehen zu können.

      Nein, das war kein Aprilscherz, und Emma hatte es richtig Angst eingejagt: Sie war mit dem vierjährigen Luca und seiner sechsjährigen Schwester mit dem Fahrrad unterwegs zum Kleingarten meines Vaters. Unterwegs wurden sie von einem gewaltig kläffenden Dackel verfolgt, der nicht auf die „Zurück!“-Rufe seines Herrchens hörte. Der Hund holte die drei ein und verbiss sich in das Bein von Luca. Es war ein Drama, Arztbesuch, Anzeige gegen den Hundebesitzer, trösten der Kinder und schließlich Rücknahme der Anzeige inklusive. Was konnte man tun, um die Angst vor Hunden und den Brass gegen Vierbeiner nicht weiter gedeihen zu lassen? Sich einen eigenen Hund anschaffen!

      Emma machte sich schlau über Hunderassen und ihre Familienverträglichkeit. Sie landete in ihrer aufwendigen Recherchearbeit bei Neufundländern. Dann machte sie sich kundig bei der nächstgelegenen СКАЧАТЬ