Название: Der Verrückte vom Freiheitsplatz
Автор: Hassan Blasim
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783956140778
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Ich habe mir oft vorgestellt, mein Leben damit zu verbringen, all die skurrilen Geschichten niederzuschreiben, die ich auf den geheimen Pfaden der Emigration erlebt hatte. Das ist mein Krebs, von dem ich nicht weiß, wie ich von ihm geheilt werden kann. Ich fürchte, ich könnte ein so seltsames Ende finden wie der irakische Schriftsteller Châlid Hamrâwi, der sein ganzes Leben lang über die Leute des einfachen Markts unweit seines Hauses geschrieben und, als der Markt abgerissen und an seiner Stelle ein großer Wohnblock errichtet wurde, Selbstmord begangen hatte. Er hinterließ sechs Bände mit Geschichten, die alle vom Weben und Leben auf diesem Markt erzählen. Einmal unterhielt ich mich mit einem jungen deutschen Romanautor über meine persönlichen Erfahrungen als klandestiner Emigrant und meine Vorstellungen darüber, wie das Erlebte fiktional zu gestalten sei. Als dann der junge Deutsche von sich zu reden begann, gab er zu, noch nie etwas Substanzielles geschrieben zu haben. Der Grund dafür, glaubte er, liege in seinem jugendlichen Alter und seinem geringen Erfahrungsschatz. Ich hatte fast das Gefühl, er beneide mich um all meine seltsamen und schmerzhaften Lebenserfahrungen. Doch statt mir darauf etwas einzubilden, schämte ich mich. Seine Bemerkungen hatten mir wieder einmal gezeigt, was für ein zerstörtes und orientierungsloses Etwas ich war. Bittere Scham ergriff von mir Besitz, die Scham jenes Mannes, von dem Andrej Tarkowskij erzählt: Ein Mann hat auf der Straße einen Unfall, bei dem ihm ein Arm abgetrennt wird. Als sich Passanten versammeln und auf den Krankenwagen warten, zieht er ein Taschentuch hervor, um seinen Arm vor den Blicken der anderen zu verbergen.
Doch Ali Basrâwis Geschichte niederzuschreiben lockte mich die ganze Zeit, obwohl sie voller Elend und Tristesse war und auch noch einige wenige Drittweltelemente enthielt, die sich an die Gefühlswelt westlicher Leser richten. Seine Geschichte hat mir immer die Poesie des menschlichen Gesichts verdeutlicht, das wie ein Juwel unter Millionen Tonnen von Trivialmüll dieses Lebens verborgen ist. Vielleicht weil ich ein Dichter bin und als Flüchtling an einem solchen Ort wohne, einem Kuhstall, habe ich ein verhärtetes Herz oder vielleicht ein Gehirn, das nicht ohne die albernen Weisheiten des Nihilismus auskommt, ein Gehirn, das versucht, mit dürftigen Worten gleichzeitig seinen Zorn über und seine Leidenschaft für die menschliche Angst auszudrücken. Aber jedes Mal, wenn ich einen Baum anschaue oder über eine Nacht voller Wölfe des Zweifels nachdenke, reißt in meinem Herzen eine Quelle aus simpler, kindlicher Traurigkeit auf. Ich bin überzeugt, dass das Schreiben sich nicht behindern lassen darf durch das demütige Gefühl Massen von Menschen gegenüber, aus deren Hemden der Schweiß dampft und die sich ähneln wie die Klos in einer Toilette. Doch Alis Geschichte sickerte in mein Blut und drängte mir viele Nächte lang Tränen in die Augen. Ich weinte über mein verhärtetes Herz. Ich weinte, weil die Welt um vieles reiner und schöner sein könnte.
Als Ali Basrâwi im vergangenen Jahr ins Aufnahmezentrum kam, gab es viel Unruhe. Die anderen Bewohner machten einen Riesentumult. Es wurde viel gelacht und gewitzelt, was wohl in seiner bleigrauen Tasche war, einer Reisetasche im Stil der 1950er-Jahre. Gleich nach seiner Ankunft wurde Ali von der Polizei vorgeladen und drei Tage einbehalten. Danach ließ man ihn gehen, gab ihm aber seine Tasche erst drei Monate später zurück. Während dieser Zeit wurde sie in den Labors der Hauptstadt untersucht. Und der Direktor des Aufnahmezentrums war schockiert, als Ali schließlich seine Tasche mit dem gesamten Inhalt zurückerhielt.
In den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts lebte Ali mit seinen sieben Brüdern, alle älter als er, in einem elenden Viertel in Bagdad. Sein Vater arbeitete als Nachtwächter für mehrere Läden in der Stadtmitte. Seine Mutter war, wie die meisten irakischen Mütter, ein Wesen, über das man den Morast der Traurigkeit, der Ungerechtigkeit und der Einsamkeit ausschüttete. Man könnte leicht die Existenz Gottes leugnen, wenn man auch nur einen Tag im Leben einer irakischen Mutter erlebt hat. Natürlich könnten Regungen dieser Art als simple, romantische Gefühlsaufwallungen abgetan werden, doch wenn es geheime Kameras gäbe, die der Welt zeigten, was eine Frau in irakischen Häusern zu ertragen hat, würden Steine reden und die Verhältnisse und ihre Verursacher anprangern. Alis Brüder hatten von ihrem Vater die zwanghafte Neigung geerbt, die Mutter für alles Unheil und alle Probleme, für Armut und Schicksalsschläge verantwortlich zu machen. Beim trivialsten Anlass wurde sie geschlagen, und die Mutter haderte mit ihrem Herrn, dass er ihr keine Tochter geschenkt hatte, dir ihr im Haushalt beistehen und Sympathie für sie haben könnte. Ali konnte nie den Tag vergessen, an dem sein ältester Bruder die arme Frau mit Händen und Füßen traktierte, bis sie ohnmächtig zusammenbrach, und das nur, weil sie ihn nicht geweckt hatte, damit er auf dem Markt Arbeit suchen konnte. Die Reaktion der Mutter auf all die Gewalt und Demütigung war immer dieselbe: Sie setzte sich neben den alten Kleiderschrank und weinte; sie beschwor die Gott wohlgefälligen Heiligen, sie aus ihrer Lage zu erlösen. Ali war damals noch ein kleiner Junge. Die Mutter schloss ihn in die Arme und drückte ihn schluchzend an die Brust. Und vielleicht umarmte sie ja einen Sohn, der, einmal erwachsen, sie auch schlagen würde.
Wenn sie ausgeweint hatte, erzählte Ali, holte sie ihre kleine Tasche aus dem Kleiderschrank, das Einzige, was sie besaß: eine alte Reisetasche, darin ein Holzkamm, ein Spiegel und ein Bild von Imam Ali, außerdem ein Koranexemplar, das in ein grünes Tuch gewickelt war, und ein Schwarz-Weiß-Foto von ihr selbst als junges Mädchen mit ihrem Vater am Flussufer. Sie löste ihr schwarzes Kopftuch und kämmte eine volle Stunde völlig stumpfsinnig ihr Haar. Dazu summte sie ein altes Lied, in dem es um die Liebe zur Mutter ging. Vielleicht fand ja die ständig wiederholte Bitte der Frau um Erlösung aus diesem Leben bei den Satanen des Himmels schließlich Gehör. Sie starb völlig überraschend an einem Gehirnschlag. Ali musste nach ihrem Tod noch Jahre warten, bis er sich an seinen Brüdern und seinem Vater rächen konnte, der wie ein Stück Dreck gelähmt auf seinem Rollstuhl saß.
Ein Jahr lang bereitete Ali alles aufs Genaueste vor. Er hatte beschlossen, zuerst nach Iran zu fliehen. In der Nacht, in der er aufbrechen wollte, ging er ins Zimmer seiner Mutter und nahm ihre Tasche, danach schlich er sich aus dem Haus. Sein Freund Adnân erwartete ihn am Ende der Gasse mit Hacke und Schaufel, in einem Sack versteckt. Die beiden Freunde zündeten sich eine Zigarette an und marschierten zum Friedhof. Der Himmel war klar, und der Mond, groß wie Alis Schmerz, erleuchtete das Grab, das die Freunde öffneten. Mit einem orangen Tuch säuberten sie die Knochen seiner Mutter und legten sie in die Tasche.
Ali nahm seine Mutter in der Tasche mit auf seine Flucht nach Iran, glücklich über seine Rache. Er stellte sich die leichenblassen Gesichter von Vater und Brüdern vor, wenn sie die Sache entdeckten. Die Knochentasche verließ ihn auch während seiner zweiten Etappe über das Gebirge in die Türkei nie. Er schlief in Tälern mit anderen Flüchtlingen, die Tasche fest an sich gedrückt wie etwas Geliebtes, etwas Geheiligtes. Diese seltsame Tasche und Alis übertriebene Aufmerksamkeit dafür wurden Anlass zu Spott und Belustigung, was ihn aber nicht kümmerte. Und nie offenbarte er irgendjemandem ihr Geheimnis. Ein Jahr lang arbeitete er in Istanbul in einer Ballonfabrik, um seine Reise auf den geheimen Pfaden der Emigration fortsetzen zu können. Und während dieses Jahres unterhielt sich Ali bei Nacht mit seiner Mutter über das ferne Land, in dem er in Frieden wohnen wollte, auch über seinen Wunsch, ein neues Leben zu beginnen und die Pein zu vergessen. Doch immer schmerzte es ihn, dass er seine Mutter in eine Tasche hatte stopfen müssen.
Als es in Istanbul bitterkalt wurde, vereinbarte Ali mit einem Schlepper, sich von ihm über die türkisch-griechische Grenze bringen zu lassen. Der Winter ist die geeignetste Jahreszeit für solche Unternehmungen, weil die Grenzwächter ihre täglichen Patrouillen etwas weniger ernst nehmen. Ali hatte zwar Angst vor der Flussüberquerung, doch der Schlepper beruhigte ihn und versicherte СКАЧАТЬ