Название: Christlich-soziale Signaturen
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Издательство: Автор
Жанр: Зарубежная публицистика
isbn: 9783950493948
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Eigenverantwortung steht in gewisser Korrelation zur Demokratie
Wenn man, im Sinne der Eigenverantwortung, dem Menschen etwas zutraut, dann soll er auch in die Entscheidung über gesellschaftliche Prozesse einbezogen werden, und seit dem Ende des 19. Jahrhunderts (genau genommen erst seit dem Zweiten Vatikanum) hat sich diese Einsicht (zumindest für das politische Geschehen, nicht für die eigene Organisation) auch in der katholischen Kirche verbreitet. Im einfachsten Fall heißt das: Partizipation beziehungsweise Demokratie. Seit geraumer Zeit darf das Bekenntnis zur Demokratie europäischer Prägung als Selbstverständlichkeit gelten: Institutionenrespekt, Liberalität, Rechtsstaatlichkeit.
Das Selbstverständliche ist nicht immer selbstverständlich. Erstens bedarf es für die Teilnahme an einer demokratischen Ordnung nicht nur der Alltagskompetenz, sondern auch einer gewissen gesellschaftlichen Kompetenz. Auf diese Weise sind Wissens- und Bildungsvoraussetzungen immer begründet worden: Demokratie braucht kluge Bürgerinnen und Bürger. Das darf auch als Anspruch an die Wählerschaft formuliert werden: Verantwortliches Wählen oder Abstimmen kommt nicht aus dem Bauch. „Dumm wählen“ ist kein Ausdruck von Eigenverantwortung, sondern eben nur ein Ausdruck von Dummheit, der man auch „zivilisierte Verachtung“ (Strenger 2015) entgegenbringen kann.
Ein zweiter Aspekt drängt sich auf; nach der Demokratisierungswelle der 1990er-Jahre gibt es weltweit Rückschläge, auch die vorderhand stabilen Demokratien sind verunsichert: Welche „Gefühlswellen“ sind aushaltbar? Ist eine „Schlechtwetterdemokratie“ überhaupt möglich? „Wutbürger“ (Hessel 2011) haben nichts zu bieten als ihr Ressentiment. Sie dokumentieren nicht Eigenverantwortung, sondern negieren sie. Diverse Links- und Rechtspopulismen, die oft, wie Wählerströme zeigen, austauschbar sind, weil sie derselben Emotions- und Mobilisierungslogik folgen, gedeihen in Situationen der Verwirrung, und sie packen die Menschen bei ihren schlechteren Impulsen (Müller 2016). Ivan Krastev hebt die Widersprüchlichkeit hervor: „Der protestierende Bürger will Veränderungen, lehnt aber jede Form politischer Vertretung ab. Er stützt seine Theorie sozialen Wandels auf Werbetexte aus Silicon Valley und schätzt die Zerstörung, verachtet aber politische Programme. Er sehnt sich nach politischer Gemeinschaft, lehnt es aber ab, sich von anderen führen zu lassen. Er riskiert Zusammenstöße mit der Polizei, traut sich aber nicht, einer Partei oder einem Politiker Vertrauen zu schenken.“ (Krastev 2017, S. 100). Das Risiko der genannten Zusammenstöße wird zudem nicht als solches gesehen, sondern eher als eine Art Abenteuer und Action lustvoll erlebt. Grundsätzlich wird in der öffentlichen Argumentation oft die Wählerschaft von ihrer Verantwortung entlastet, weil allemal böse Menschen und Mächte schuld sind, und eine vollständige Verantwortungsentlastung ist vollzogen, wenn sich politischer Akteur und Wählerschaft in der emotionalisiert-lauschigen Überzeugung finden, dass Fakten irrelevant sind (McIntyre 2018) – denn dann hat man nicht einmal mehr eine Verantwortung für eigene Irrtümer oder Lügen.
Eigenverantwortung fordert aber sehr wohl die Reflexion über die Frage: Was können wir tun? statt nur die Frage zu stellen: Was geschieht uns? Die letztere Frage drückt jene Passivität aus, die gerade nicht mit Eigenverantwortung einhergeht. Bei allen Schwierigkeiten, bei aller Unübersichtlichkeit ist die Option einer schrittweisen (nüchternen, abgewogenen) Verbesserungspolitik aufrechtzuerhalten. Denn dies sind die beiden extremen Optionen: (a) Wer sich mit der Unvollkommenheit abfindet („Es hat ohnehin alles keinen Sinn.“), der verspielt Chancen. (b) Wer die vollkommene Gesellschaft herstellen will („Wir brauchen ein ganz neues System.“), landet im Totalitarismus (Bracher 1982).
Eigenverantwortung wird minimiert durch die Stilisierung von Opferrollen
Es gibt zwei Haltungen, die man als Gegenstück zur Eigenverantwortung sehen kann (und die oft in Kombination auftreten). Sie gehörten nicht zuletzt bei den großen Staatsideologien Faschismus und Bolschewismus zum Kernbestand. Die erste Haltung ist die Abweisung von Eigenverantwortung in dem Sinne, dass für alle Unzulänglichkeiten Schuldige zu suchen sind: Feinde, Agenten oder Sündenböcke. Die anderen sind schuld: die Abzocker, die Kapitalisten, die Faulpelze, die Migranten, die Manager, die Sozialhilfeempfänger, die Steuerhinterzieher, die Konzerne, die gierige Oberklasse, die leistungsschwache Unterklasse, die ängstlich-sklerotische Mittelklasse, die verwöhnte und lethargische Jugend, die Fleischfresser und die SUV-Fahrer, die Pop-Abkömmlinge und beliebige andere. Alles könnte schön sein, wenn es nur die Gruppe X nicht gäbe.
Die zweite Haltung ist die Stilisierung der eigenen Opferrolle. Man hat keine Eigenverantwortung, wenn man bloß das Opfer übermächtiger Mächte ist. Eine solche Opferrolle kann besonders dann attraktiv sein, wenn die institutionellen Verhältnisse aus einem beliebigen Opfer-Titel zu kollektiven Leistungen berechtigen. Aber sie hat auch ihren psychosozial-narzisstischen Eigenwert, weil sie an jene Sensibilitäten appelliert, die in einer luxuriösen spätmodernen Gesellschaft gewachsen sind. Radfahrer sind Opfer der Autofahrer, und umgekehrt. Nichtraucher sind Opfer der Raucher, und umgekehrt. Stromkunden sind Opfer der teuren Alternativenergieerzeuger. Frauen und Alleinerziehende sind ohnehin Opfer, Eltern erst recht. Die Jüngeren sind Opfer, weil sie in diese Welt geboren werden, die Älteren, weil sie alt sind. Muslime sind Opfer der Diskriminierung, Einheimische sind Opfer radikaler und krimineller Muslime. Wer kein Opfer ist, der ist deswegen ein Opfer, weil alle anderen Opfer sind, die er bezahlen muss (Prisching 2009). Es ergibt sich ein riesiges Opfer-Panoptikum. Durch die allseitige Sichtbarkeit in der Kommunikationsgesellschaft lassen sich immer Vergleichsgruppen finden, gegenüber denen man ein eigenes Opfer-Design aufbauen kann.
Beide Haltungen weisen Eigenverantwortung von sich: Es sind hinterlistige Mächte, denen man ausgesetzt ist und die den Einzelnen passivieren, bedrängen, beeinträchtigen. Der Einzelne muss dann gar nicht mehr anfangen, die Ärmel aufzukrempeln.
Eigenverantwortung steht in Spannungsfeldern und Balancen
Der Begriff der Eigenverantwortung steht in Balance zu zahlreichen anderen sozial und politisch relevanten Begriffen. Es geht immer um das rechte Maß, und was das ist, lässt sich nur im konkreten Fall diskutieren oder beurteilen. (a) Eigenverantwortung korrespondiert etwa mit Freiheit; aber zu viel Freiheit bedeutet Überlastung, Anarchie, Indifferenz und macht Eigenverantwortung unmöglich. (b) Eigenverantwortung steht in Spannung zur Gleichheit, denn es müssen aufgrund der Verantwortungszuschreibung unterschiedliche Ergebnisse möglich sein; aber extreme Ungleichheit macht es manchen Menschen unmöglich, überhaupt Eigenverantwortung auszuüben. (c) Eigenverantwortung steht in Spannung zur Solidarität, denn zu viel Solidarität reduziert oder beseitigt das Gefühl der eigenen Verantwortlichkeit, während wohlverstandene Eigenverantwortung auch den Blick auf Gemeinwohl und Gemeinschaft, also Solidarität, einschließt. So könnte man fortfahren.
Zu einem christlich-sozialen Weltbild10 gehört das Leben in Widersprüchen, in der Ausbalancierung – einfach deshalb, weil ein nüchterner Blick auf die Welt verrät, dass es anders gar nicht geht. Einerseits kommt unser Wohlstand aus Kreativität und Dynamik; andererseits kann Geld die Sitten verderben. Einerseits ist der Staat gut, wir brauchen ihn; andererseits kann er repressiv, korrupt und bevormundend werden. Der Markt und seine Zähmung. Die Technik und die Skepsis ihr gegenüber. Die Demokratie und ihre Beschränkung. Die Individualität und ihre Wiedereinbettung. ‚Checks and balances“. Die christlich-soziale Perspektive konzipiert das Leben in der stets verbesserbaren Unvollkommenheit. Es geht um das Leben im richtigen Maßstab. Eigenverantwortung heißt also auch: das richtige Maß anstreben. Nicht die Mittelmäßigkeit, Durchschnittlichkeit oder Normalität zum Prinzip erheben, sondern in freier Beurteilung jenes richtige Maß finden, welches Extremismen СКАЧАТЬ