Название: Christlich-soziale Signaturen
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Издательство: Автор
Жанр: Зарубежная публицистика
isbn: 9783950493948
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Das ist eine Frage des Menschenbildes. Das ist auch eine Frage der Wahrnehmung. Die Wahrnehmungen von Menschen in Bezug auf Menschenwürde werden genährt und geprägt. Man soll den christlichen Beitrag zu den Intuitionen, die ein Verständnis von Menschenwürde tragen und formen, nicht unterschätzen. Auch der einflussreiche Philosoph Jürgen Habermas hat zugestanden, die Intuitionen, die seine „Theorie kommunikativen Handelns“ anleiten, der jüdisch-christlichen Tradition entnommen zu haben.
Die Christin erwartet von der Politik keine letzten Antworten, kann aber einen Sinn für das Letzte in die Politik einbringen, gerade mit Blick auf die Würde. Als nach dem 11. September 2001 mehr und mehr Vorschläge eingebracht wurden, Formen von Folter zuzulassen und das absolute Folterverbot aufzuweichen, meldete sich Jeremy Waldron mit einem Aufsatz in einer theologischen (!) Zeitschrift zu Wort. Er erinnert daran, dass gerade Christinnen und Christen darauf vorbereitet sind, absolute Verbote zu verstehen. Sie haben einen Sinn für das Absolute und sie haben einen Sinn für die Achtung vor der Heiligkeit des Lebens. Gerade christlich gesinnte Menschen sollten verstehen, was „absolutes Folterverbot“ bedeutet und sich dafür einsetzen.6 Christen und Christinnen haben ein Verständnis der Unantastbarkeit der Person, der Heiligkeit von Normen und auch der spirituellen Gefahr, die Seele eines Menschen durch Folter zu brechen.7 Waldron – und das ist ein wichtiger Punkt, der uns bereits zum nächsten Aspekt bringt – zitiert auch F. S. Cocks, einen Delegierten des Vereinigten Königreichs bei den Verhandlungen zur Europäischen Menschenrechtskonvention von 1949, der in Bezug auf das absolute Folterverbot den Textierungsvorschlag gemacht hat: „The Consultative Assembly […] believes that it would be better for a society to perish than for it to permit this relic of barbarism to remain.“8
Damit ist bereits „Freiheit zu Gemeinwohl“ angesprochen, die Freiheit, sich für das Gemeinwohl einzusetzen. Das Gemeinwohl ist dabei nicht das Wohl einer Mehrheit oder der meisten, sondern das Wohl einer Gemeinschaft als ganzer. Politik ist aus christlicher Sicht Mittel zum Zweck und nicht Zweck. Nach einem christlichen Verständnis ist auch das gute Gemeinschaftsleben nicht ein Wert in sich, sondern dient dem Zweck, jeden einzelnen Menschen auf das letzte Ziel vorzubereiten. Das bedeutet dann auch, dass nationale Souveränität nicht die oberste Norm ist, wie es das von Waldron zitierte Wort von Cocks anspricht.9 Dazu braucht es eine klare Verwurzelung, die nicht allein in „Werten“ gefasst werden kann, wie es Georges Vanier angesprochen hat. Das Ringen um das Gemeinwohl ist nicht das Ringen darum, dass es „den meisten einigermaßen gut gehe“; es ist kein utilitaristischer Ansatz, der das größte Glück der größten Zahl sucht, sondern die Tiefe der Gemeinschaft und die Lebenstiefe jeder einzelnen Person. Hier ist ein Stachel im Fleisch, der die Freiheit und Verantwortung gibt, nicht die augenscheinlich pragmatischen Antworten als letzte zu sehen. Im Matthäusevangelium finden wir im 14. Kapitel die Erzählung von der Brotvermehrung. Ich zitiere Verse 15 und 16: „Als es Abend wurde, kamen die Jünger zu ihm und sagten: Der Ort ist abgelegen und es ist schon spät geworden. Schick doch die Menschen weg, damit sie in die Dörfer gehen und sich etwas zu essen kaufen können. Jesus antwortete: Sie brauchen nicht wegzugehen. Gebt ihr ihnen zu essen!“
Das ist bemerkenswert, haben die Jünger doch vernünftig gesprochen und einen vernünftigen Vorschlag gemacht. Die Replik „Gebt ihr ihnen zu essen“ ist eine klare Überforderung – und doch „Stachel im Fleisch“.
Ich will daraus schließen, dass der Christ und die Christin weder erste und letzte Antworten von der Politik erwarten, noch nächstliegende Antworten akzeptieren können. Sie fragen tiefer.
(2) Ein Christ, eine Christin stellt ernsthafte politische Fragen und ernsthafte Anfragen an die Politik
Eine Möglichkeit, an die politische Ethik heranzugehen, ist folgender Zugang: Man kann sich angesichts einer politischen Entscheidung oder einer politischen Maßnahme fragen: Auf welche Frage (auf welches Anliegen) antwortet diese Entscheidung oder diese Maßnahme und welchen moralischen Status hat diese Frage?
Ein Beispiel: Der Innenminister entscheidet, im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen eine Tafel „Ausreisezentrum“ anzubringen. Auf welche Frage antwortet diese Entscheidung und welchen moralischen Status hat diese Frage? Man könnte vorschlagen, dass die der Entscheidung zugrunde liegende Frage lautet: „Wie kann man Menschen dazu bringen, sich nicht willkommen zu fühlen?“
Der moralische Status der Frage hängt dabei auch mit bestimmten Voraussetzungen zusammen, die die Frage ermöglichen. Das ist das Feld der erotetischen Logik. Die erotetische Logik untersucht die Voraussetzungen einer Frage. Wenn etwa eine Frage lautet: „Hat Boris aufgehört, seine Frau zu schlagen?“, so setzt diese Frage voraus: (1) Es gibt einen verheirateten Mann namens Boris, auf den sich eine Frage so beziehen kann, dass klar ist, wer gemeint ist; (2) Boris hat in der Vergangenheit seine Frau geschlagen; (3) Boris hat die Möglichkeit, die Gewalt an seiner Frau zu beenden.
Diese drei Voraussetzungen können jeweils wahr oder falsch sein. Vom Status dieser Voraussetzungen ist der Status der Frage abhängig. Der moralische Status der Frage ergibt sich freilich nicht allein aus wahren Voraussetzungen. Wenn jedoch die Voraussetzungen falsch sind, ist die Frage irregeführt und irreführend. Die Politik ist gut beraten, sich mit wohlbegründeten Fragen zu beschäftigen. Niemand wird vernünftigerweise abstreiten können, dass die Sicherung der Gewährleistung von Pflege bis 2030 jetzt eine wohlbegründete politische Frage ist. Es wird wenig Zeit darauf verwendet, sich über die Formulierung der Frage Gedanken zu machen. Soll die Frage lauten: „Wie kann die Finanzierung der Pflege aus Sicht des Staates und der Staatsfinanzen gesichert werden?“, oder: „Wie kann gewährleistet werden, dass alle Menschen einen menschenwürdigen letzten Lebensabschnitt haben?“, oder: „Wie kann sichergestellt werden, dass sich jeder einzelne Mensch gute Pflege leisten kann?“
Die Nuancierung der Formulierung macht einen Unterschied; es ist sinnvoll und hilfreich, sich vor Antwortversuchen Klarheit über die Frage zu verschaffen, um die es gehen soll. Es ist eine Sache „Themen“ und „Probleme“ zu identifizieren, es ist eine andere Sache, präzise formulierte Fragestellungen zu bearbeiten. Es wird wenig Zeit darauf verwendet, über die zu verhandelnden Fragen Konsens zu erzielen. Ein wichtiger Beitrag zur politischen Kultur könnte gerade darin bestehen, vor dem konflikthaften Pluralismus einer lebendigen Demokratie einen vorgelagerten Konsens über die Fragen zu erzielen. Damit wird gemeinsamer Boden geschaffen, der Konflikte entschärft. Die Art der Frage macht einen Unterschied – die Frage „Wie kann sichergestellt werden, dass für den Straßenverkehr hinreichend Straßen vorhanden sind?“ ist eine andere als die Frage „Wie kann das Verkehrsaufkommen angesichts des begrenzten Straßennetzes reduziert werden?“.
Ich will hier nicht ausdrücken, dass es in der Politik nicht auch um die Kunst der Antwort geht, doch bleibt die Kunst der Frage der ars respondendi vorgelagert. Fragen sind Fenster im Wertgefüge. Die Fahrverbote in Tirol sind sicherlich nicht Antwort auf die Frage: „Wie kann man Autofahrer ärgern?“ Hier sollten politische Maßnahmen vermieden werden, die den Eindruck erwecken, dass die zugrunde liegende Frage lautet: „Wie kann eine Retourkutsche auf Österreichs Klage gegen die geplante deutsche Autobahnmaut aussehen?“
Eine Christin trägt ernsthafte Fragen an die Politik heran, weil ihr die Gemeinschaft am Herzen liegt. Sie stellt „Warum“-Fragen СКАЧАТЬ