Название: Geist & Leben 4/2021
Автор: Verlag Echter
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783429065065
isbn:
Das rechte Maß
Die Tradition hat die Tugend der Keuschheit innerhalb der Kardinaltugend der temperantia, also des Maßhaltens, verortet. Denn Keuschheit bedeutet, das rechte Maß zu finden in Bezug auf die eigene Sexualität und Geschlechtlichkeit. Insofern hat die Tugend der Keuschheit nichts mit kirchlicher Verbotsmoral7 zu tun, auch wenn sie leider allzu oft genau hier thematisiert wurde. Das Mühen um die Tugend der Keuschheit gehört vielmehr in den Kontext der „Kunst des Liebens“ (E. Fromm)8. Sie ist ein ambitioniertes, lebenslang unabgeschlossenes Projekt.
Die Keuschheit hat die caritas ordinata9, die geordnete Liebe, im Blick. Seit frühester Zeit deutete die geistliche Überlieferung den Ruf der Braut aus dem Hohenlied Salomos „er hat in mir die Liebe geordnet“ (Vulgata Hld 2,4b: „ordinavit in me caritatem“) als Verweis auf Christus.10 In Ihm, dem „schönsten aller Menschen“ (Ps 45,3), findet die unendliche Liebessehnsucht des Menschen ihre Erfüllung. Von Christus her ordnet sich das menschliche Streben nach Erfüllung. Gemäß christlicher Anthropologie ist der Mensch von Beginn an auf ein Gegenüber angelegt und kommt erst im göttlichen wie einem menschlichen Gegenüber zur Erfüllung. Die Keuschheit bewahrt uns vor der Ansicht, wir wären uns selbst genug und die anderen dienten nur dazu, unsere Wünsche zu erfüllen.
Zur Illustration der Unkeuschheit bedient sich Thomas von Aquin eines Bildes aus dem Tierreich. Er vergleicht sie mit dem Blick des Löwen auf einen Hirsch: Der Löwe sieht den Hirsch nur durch sein Beuteschema. Die Eleganz und Schönheit des Hirsches vermag er nicht wahrzunehmen. In ihrem gierigen Zugriff verhindert Unkeuschheit also, die Wirklichkeit in ihrer Fülle und Schönheit zu sehen. Sie ist egoistische Brechung der eigenen Wahrnehmung und „schätzt“ die andere Person immer nur insofern, als sie der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse dient.11 „Ein unkeuscher Mensch“, führt Josef Pieper aus, „will vor allem etwas für sich selbst; er ist abgelenkt durch ein unsachliches ‚Interesse‘; sein stets angespannter Genusswille hindert ihn, in jener selbstlosen Gelöstheit vor die Wirklichkeit zu treten, die allein echte Erkenntnis ermög-licht.“12 Positiv gewendet ist die Geste der Keuschheit „die Berührung voller Ehrfurcht. Denn schon die Berührung der Haut berührt die Person, und die Person ist der Ehrfurcht wert. So berührt selbst die Keuschheit nicht das tiefste Geheimnis des Anderen, denn sein Geheimnis ist der Unversehrtheit wert.“13 Insofern muss die Liebe immer wieder neu ausgerichtet, neu geordnet werden, um nicht hinter dem zurückzubleiben, wozu der Mensch in Christus berufen ist.
Keuschheit und Selbsterkenntnis
Wer ein keusches Leben führen will, muss regelmäßig über sich selbst Rechenschaft ablegen. Das erfordert, sich über die eigene Sexualität im Klaren zu sein und an der persönlichen sexuellen Reife zu arbeiten. Darüber hinaus verlangt es, die eigene Geschlechtlichkeit in die Persönlichkeit zu integrieren, so dass der Mensch in der Lage ist, seine inneren Regungen und Bedürfnisse bewusst wahrzunehmen, sie zu reflektieren und angemessen mit ihnen umzugehen. Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit im Umgang mit sich und mit anderen sind gefragt. Nur so können tragfähige Beziehungen aufgebaut und eingegangen werden. Die schonungslose Ehrlichkeit verhilft auch dazu, fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn man bemerkt, dass man an seine Grenzen stößt und das eigene Leben Gefahr läuft, außer Kontrolle zu geraten.
Gerade im Blick auf das zölibatäre Leben heißt Selbsterkenntnis überdies, sich über die eigene Motivation bei der Berufswahl klarzuwerden. Der einmal eingeschlagene Weg ist immer wieder neu zu wählen und die eigene Entscheidung neu zu bekräftigen. Berufung ist kein einmaliger Vorgang an einem bestimmten Zeitpunkt des eigenen Lebens. Der göttliche Ruf und Anruf ist demgegenüber in Regelmäßigkeit neu zu vernehmen, um sein Leben danach auszurichten.
Wirkliche Selbsterkenntnis schenkt Klarheit über die eigene Rolle und Klarheit darüber, wer der andere als mein Gegenüber ist. Die innere Standortbestimmung ermöglicht, die diesem Gegenüber angemessene Verhaltensweise zu finden. Dies gilt umso mehr, als es in der Seelsorge oftmals schwer ist, professionelle Beziehungen von vertrauteren zwischenmenschlichen oder gar freundschaftlichen Beziehungen zu unterscheiden.14 Die rechte Nähe und die gebotene Distanz sind dabei stets neu zu vermessen und auszuloten. Keuschheit setzt eigene Grenzen und respektiert fremde Grenzen. Das schenkt innere Freiheit und stellt die Beziehungen zum anderen auf ein verlässliches Fundament. Respekt vor dem Geheimnis des anderen und Diskretion eröffnet den Raum der Ehrfurcht voreinander, innerhalb dessen Beziehungen zu wachsen vermögen und wirkliche Liebe sich vertiefen kann.15
Keuschheit und Macht
Der Missbrauchsskandal hat Kirche wie Gesellschaft neu dafür sensibilisiert, wie sehr asymmetrische Beziehungen anfällig sind für missbräuchliches Verhalten. Viele Situationen der Seelsorge weisen ein Machtgefälle auf und erfordern bei den Verantwortlichen eine besondere Sorgfaltspflicht. Mit Hilfe von Verhaltenskodizes wird im Sinne der Prävention ein Rahmen abgesteckt, der angemessene Verhaltensweisen normiert und zur Reflexion des eigenen Agierens anhält. Das enthebt jedoch nicht davon, sich selbst im Sinne der Keuschheit um besondere Sensibilität für die jeweilige Situation zu mühen. Gerade die Keuschheit weiß um die Verletzlichkeit besonders schutzbedürftiger Menschen. Von daher verbietet sie es sich, die Schwachheit anderer in unangemessener Weise auszunutzen und der Versuchung nachzugeben, deren Ausgeliefertsein schändlich zu missbrauchen. Im Gegensatz dazu versteht gerade der keusche Mensch die Verletzlichkeit anderer als Anruf zu besonderer Achtsamkeit. Das verlangt nach der Fähigkeit zu echter Empathie und liebevoller Fürsorge.
Keuschheit als Schule der Beziehungsfähigkeit
Die bisherigen Überlegungen haben eines deutlich werden lassen: Keuschheit ist die Grundlage echter Beziehungsfähigkeit16. Nur jener kann anderen wirklich selbstlos und im Sinne Christi dienen, der eine reife Persönlichkeit ausgebildet hat, um seine Bedürfnisse weiß, sie reflektieren kann und sie in seine Persönlichkeit integriert hat. Keuschheit hat demnach nichts mit prüder Verklemmtheit oder falscher Schüchternheit zu tun. Sie ist als Tugend die positive Grundhaltung, die einen wahrhaft menschlichen, personen- wie situationssensiblen Umgang ermöglicht. Wer ganz bei sich ist, kann auch ganz beim anderen sein. Beziehungen verbleiben dann nicht im Oberflächlichen oder auf der Ebene des rein professionell-seelsorglichen, sondern gewinnen Tiefgang, so dass Herz zu Herz sprechen kann, ohne in unangemessener Weise Grenzen zu verletzen.
Zu den besonderen Herausforderungen des zölibatär lebenden Priesters gehört sicher die Spannung zwischen der Verfügbarkeit gegenüber den Oberen einerseits und der Verpflichtung zur aufopferungsvollen Hingabe für die seiner Hirtensorge anvertrauten Menschen andererseits17. Falls es dem Einzelnen nicht gelingt, in diesem Spannungsgefüge eine wechselseitige Kommunikation aufzubauen, kann das zu einer falschen Spiritualisierung des Lebensideals führen. Sie zeigt sich darin, dass der Priester im Letzten sich selbst verhaftet bleibt, ohne sich dem jeweiligen Gegenüber wirklich zu öffnen. Trotz des tagtäglichen Einsatzes im doppelten Gehorsam gegenüber Bischof und Gemeinde fällt dann eine authentische Kommunikation aus, die für ein erfüllendes Leben unabdingbar ist. Verfügbarkeit geht auf Kosten echter Beziehungsfähigkeit. Das Ergebnis ist der „blutleere Kirchenbeamte“18, der zwar funktioniert, aber dem es nicht gelingt, andere Menschen zu erreichen. СКАЧАТЬ