Ausweitung der Kontingenzzone. Christian Schuldt
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Название: Ausweitung der Kontingenzzone

Автор: Christian Schuldt

Издательство: Bookwire

Жанр: Социология

Серия:

isbn: 9783863935832

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СКАЧАТЬ bildet die bislang unwahrscheinlichste Stufe der soziokulturellen Evolution – und stellt zugleich einen Epochenbruch dar, der so einschneidend ist wie der Übergang zur Sesshaftigkeit oder die industrielle Revolution. Dabei ist die digitale Transformation zugleich eine bewegliche Epochenschwelle, die strukturell, kulturell und intellektuell auf verschiedene Zeitpunkte fixierbar ist – so wie sich das Paradigma der Elektrizität erstreckt vom Beginn der urbanen und industriellen Elektrifizierung Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Einführung und Etablierung des Computers mit seinen Netzwerken, Speichern und Algorithmen im 20. und 21. Jahrhundert.

      Viel entscheidender als eine zeitliche Fixierung ist jedoch das Prinzip der evolutionären Temporalisierung, das prägend ist für die strukturelle Koordination dieser neuen Komplexität. Dirk Baecker beschreibt es als oszillierendes Zusammenspiel von Zerfall und Wiederaufbau beziehungsweise Entropie und Negentropie: „Die Zeit der nächsten Gesellschaft ist nicht mehr die der ewigen Wiederkehr noch die eines sich erfüllenden Schicksals oder gar des Fortschritts. Stattdessen handelt es sich um eine Zeit des Zerfalls, der Entropie, als Voraussetzung des Aufbaus einer vorübergehenden Ordnung, einer Negentropie“ (Baecker 2018a, 76).

      Beides, Entropie und Negentropie, bedingt einander: Der Zerfall ist die Voraussetzung für den Wiederaufbau – weil er die Form ist, die verschiedenste Zeitlichkeiten zumindest momentweise synchronisieren kann. Genau darin liegt der evolutionäre Geschwindigkeitsvorteil der elektronischen Medien, die unser Sozialverhalten unweigerlich begleiten und beeinflussen. Sie können „an jeder Schnittstelle genau die Zerfallsfrequenzen anbieten, die Körper, Gehirn, Interaktion unterschiedlich attrahieren und für den Moment binden“ (ebd., 84). Das Resultat dieser Verknüpfung des Heterogenen und nur kontextuell Zugehörigen ist eine umfassende Dynamisierung und Flexibilisierung der gesellschaftlichen Grundstrukturen – eine unkontrollierbare, „unordentliche“ Gesellschaft.

       Sinnüberschuss: Die unordentliche Gesellschaft

      Die nächste Gesellschaft ersetzt das Strukturprinzip der klar separierten Funktionssysteme, das die moderne Gesellschaft dominiert hat, durch das neue Paradigma des Netzwerks. An die Stelle der funktionalen Rationalität und der Vernunft, die noch die moderne Gesellschaft mit ihren klar abgrenzbaren Subsystemen dominierten, tritt die neue Strukturform des Netzwerks. Es ist gekennzeichnet durch die hybride Kopplung heterogener Elemente, hat keine spezifischen Grenzen, ist jederzeit irritierbar und verknüpfbar. Heterogene Varianzen lösen die moderne Dynamik ab.

      In diesem Sinne funktioniert die digitale Transformation rekursiv und nicht-trivial: Indem sie ständig neue Voraussetzungen für Anschlusskommunikationen schafft, die wiederum neue Voraussetzungen für weitere Anschlusskommunikationen schaffen, wird die soziale Realität gewissermaßen „verflüssigt“ (vgl. Bauman 2000). Damit endet gleichsam die Ära des Atoms, das als Leitmotiv für einen „autoritären“ Individualismus stand: nach innen hierarchisch strukturiert, nach außen in Relationen zu anderen Elementen, aber dennoch solitär. Die Metapher für das 21. Jahrhundert ist dagegen das dynamische Netz, das Prinzip der Interdependenz der Gleichen. Es geht um die kooperative Wechselseitigkeit von Strukturen und Individuen, die sich gegenseitig brauchen und bedingen, um das Gesetz der strukturellen Äquivalenz. Eben deshalb unterscheidet sich die nächste Gesellschaft von der modernen Gesellschaft „wie die Elektrizität von der Mechanik“ (Baecker 2018a, 14).

      Je mehr das alte Prinzip der Verbreitung, das die Ära des Buchdrucks prägte, abgelöst wird vom neuen Prinzip der computerisierten Resonanzen, umso mehr wird auch das individualistische Selbstbild der Moderne obsolet. Immer weniger geht es um die individuellen Motive individueller Handlungen – und immer mehr um Singularitäten und Aktivitäten, die einander bedingen und rekrutieren. Auch Identitäten können in der Netzwerkgesellschaft nur noch in Abhängigkeit von anderen Netzwerkelementen bestimmt werden.

      Um tiefer zu verstehen, wie diese nächste Gesellschaft alte Strukturen flexibilisiert und verabschiedet, hilft ein Blick auf die Historie der Gesellschaft. Wie bereits in der Einleitung umrissen (siehe S. 14ff.), lässt sich die Evolution der Gesellschaft in vier Epochen unterteilen (tribale Gesellschaft, antike Gesellschaft, moderne Gesellschaft, Netzwerkgesellschaft), die ihrerseits mit vier dominanten Verbreitungsmedien verbunden sind (Sprache, Schrift, Buchdruck, Computer). Neue Verbreitungsmedien prägen aber nicht nur die Art, wie Inhalte verbreitet werden, sondern auch die Basisstruktur der Kommunikation, die Grundlage jeder Gesellschaft. Wird die Kommunikation komplexer, weil auf einmal mit Büchern neue Ideen verbreitet werden können oder weil über das Internet unmittelbare Vernetzung im großen Stil stattfinden kann, entstehen neue Gesellschaftsformen.

      Jedes Verbreitungsmedium produziert dabei einen kommunikativen „Sinnüberschuss“: Es bewirkt, dass in jeder einzelnen Kommunikation der Gedanke daran mitläuft, was auch woanders und früher oder später gesprochen, geschrieben, gedruckt und errechnet werden kann. Dieser neue Sinnüberschuss überfordert bisherige Gesellschaftsstrukturen. Er bedeutet eine „Katastrophe im mathematischen Sinne“ und löst einen „Attraktorzustandswechsel“ aus (Baecker 2007, 153): Alles organisiert sich neu.

      Keine dieser medialen Neoorganisationen geht ohne Wachstumsschmerzen vonstatten. Das gilt auch für die „Katastrophe“, die der Siegeszug der vernetzten Medien mit seiner neuen Dimension des Sinnüberschusses erzeugt. Die bisherigen Sinnüberschüsse – der Referenzüberschuss der Sprache (Verweise auf Abwesendes), der Symbolüberschuss der Schrift (Verweise auf Vergangenheit und Zukunft) und der Kritiküberschuss des Buchdrucks (Verweise auf jederzeit mögliche andere Perspektiven) – werden nun überlagert und ergänzt durch den neuen Kontrollüberschuss des Computers. Die „undurchschaubaren“ Maschinen, die zunehmend an Kommunikation beteiligt sind, beschleunigen die Organisation von Komplexität und erhöhen die Unbeständigkeit.

      Konkret heißt das: Immer häufiger müssen wir uns auf maschinell prozessierte Kommunikation verlassen, ohne den Informationsgehalt hinterfragen zu können, zunehmend müssen wir Informationen annehmen und Entscheidungen treffen, ohne die Quelle und Qualität der Daten überprüfen zu können. Das betrifft alle Akteure der Gesellschaft, von Unternehmen, die über Big-Data-Auswertungen rätseln, bis zu Singles, die sich über Dating-Algorithmen kennen lernen. Die Möglichkeiten, vernetzt zu kommunizieren, explodieren förmlich – und verbreiten ein Gefühl des kollektiven Kontrollverlusts.

      Die Netzwerkgesellschaft ist undurchschaubarer und unberechenbarer als vorige Gesellschaftsformen. Ihr Weltmodell ist organisch und ökologisch gestaltet: komplex vernetzt und verwoben – und damit radikal unterschieden von den modernen Vorstellungen der Eindeutigkeit, Balancierbarkeit und Steuerbarkeit, die noch die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts prägten. Insgesamt bewirkt die Digitalisierung damit einen Wandel von Berechenbarkeit und Steuerbarkeit zu Unberechenbarkeit und Unvorhersehbarkeit. Der Krisenmodus wird gleichsam zum Normalzustand: „Solange man nicht weiß, wie es weitergeht, vergewissert man sich eines Stands der Dinge, auf den kein Verlass ist“ (Baecker 2018a, 86).

      Eben dies macht Kontingenz zu einer elementaren Erfahrung der nächsten Gesellschaft: Im Zuge der Vernetzung gewinnt das Prinzip der Kontingenz eine neuartige, strukturell prägende Dominanz. Denn in Netzwerken geht es nicht mehr, wie in Funktionssystemen, um die Inklusion aller Personen, sondern eher im Gegenteil: Die beteiligten Elemente werden austauschbar. Alle Akteure der Gesellschaft müssen sich deshalb auf das Prinzip der strukturellen Äquivalenz einstellen, um anschlussfähig und kalkulierbar zu bleiben.

       Intransparenz: Lost in Transformation

      In seinem letzten Buch „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ beschrieb Niklas Luhmann bereits 1997, wie die Computerisierung die Teilnahme an Kommunikation leichter denn je macht – und zugleich kontingenter denn je, weil kaum СКАЧАТЬ