Название: Ausweitung der Kontingenzzone
Автор: Christian Schuldt
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783863935832
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Das heißt nicht, dass eine Gesellschaft, die in verschiedene selbstferenziell-geschlossene Subsysteme ausdifferenziert ist, nach bestimmten Vorgaben „gestaltbar“ wäre, erst recht nicht im Übergang zum neuen Paradigma einer hyperkomplexen Netzwerkgesellschaft. Dennoch ist und bleibt Gesellschaft immer das, was wir aus ihr machen, indem wir unsere Wünsche und Vorstellungen umsetzen. Und je mehr Menschen, Organisationen und Institutionen eine gemeinsame Idee der zukünftigen Gesellschaft aktiv mitgestalten, umso wahrscheinlicher wird sie.
Gerade in einer Zeit fundamentaler globaler Umbrüche und zunehmender gesellschaftlicher Fragmentierung ist die Kultivierung eines solchen möglichkeits- und gestaltungsorientierten Gesellschafts- und Zukunftsverständnisses wichtig und wertvoll. Die Voraussetzung dafür ist nicht nur eine mentale Offenheit für Veränderungen, sondern vor allem auch ein umfassendes Verständnis der Strukturen und Kulturen der nächsten Gesellschaft – und ihrer möglichen Zukünfte.
Die systemtheoretische Perspektive ermöglicht eine solche Sicht auf die vernetzte Welt im 21. Jahrhundert: komplexitätsaffin, holistisch, possibilistisch. Gerade die nüchterne Analyse der „unordentlichen“ systemischen Dynamiken schärft den Blick für die neuen, komplexen Ordnungsmuster – und damit auch für alternative Möglichkeiten des Zusammenhalts in Zeiten des Kontrollverlusts. Von diesen Kontingenz- und Kohärenzpotenzialen handelt dieses Buch.
An die Stelle sachlicher Rationalität treten heterogene Spannungen, an die Stelle der Vernunft das Kalkül, an die Stelle der Wiederholung die Varianz. (Dirk Baecker)
Evolution I: Entropie
Die „nächste Gesellschaft“ ist eine vernetzte Gesellschaft. Aber was genau meinen wir eigentlich, wenn wir von „Vernetzung“ und „Digitalisierung“ sprechen? Allzu oft ist der Diskurs über den „digitalen Wandel“ vor allem eines: tendenziell hysterisch. Debatten über die „digitale Transformation“ sind häufig geprägt von Übertreibungen und Simplifizierungen, von überzogenen Erwartungen und diffusen Ängsten, gespickt mit Buzzwords wie „Disruption“, „Plattformökonomie“, „Industrie 4.0“ oder „Künstliche Intelligenz“ – ohne dass dabei die strukturellen Prinzipien, die diesen Phänomenen zugrunde liegen, in den Blick kommen.
Was ein aufgeklärter und emanzipierter Umgang mit den komplexen Phänomenen des medialen Wandels daher umso mehr braucht, ist eine theoretische Fundierung: ein reflektiertes Verständnis, wie sich der Prozess der Digitalisierung auf die Gesellschaft, auf ihre Organisationen und Individuen auswirkt. Die Systemtheorie kann dazu vieles beitragen. Niklas Luhmann selbst erlebte den globalen Siegeszug des Internets zwar nicht mehr, doch in seinem letzten Buch „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ (vgl. Luhmann 1997) thematisierte er an verschiedenen Stellen die künftige Entwicklung der damals erst breitenwirksam einsetzenden Digitalisierung – und legte damit den Grundstein für weitere systemtheoretische Beobachtungen der vernetzten Gesellschaft.
Einer der wenigen, die produktiv daran anschließen konnten, ist der Soziologe Dirk Baecker. Bereits 2007 nahm er in seinen „Studien zur nächsten Gesellschaft“ die neuen Muster der Netzwerkgesellschaft erstmals umfassend unter die Lupe (vgl. Baecker 2007), mit „4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt“ legte er 2018 eine Art Kartografie dieser nächsten Gesellschaft vor (vgl. Baecker 2018a). Luhmanns und Baeckers Beobachtungen schärfen das Bewusstsein für die Funktionsweise der vernetzten Gesellschaft – auch und gerade in der Unterscheidung zu den vorigen, nichtvernetzten Gesellschaftsformen, in denen wir mental immer noch zu Hause sind. Denn: „Verstehen kann man nur, wenn man das bislang Unverständliche mit bereits Verstandenem vergleicht“ (Baecker 2016, 5).
Diese Perspektive erklärt bereits, warum die Digitalisierung kontroverse bis panische Reaktionen hervorruft. Und sie öffnet den Blick für jene neuen Kompetenzen und Kulturformen, die Individuen und Organisationen heute und künftig brauchen, um sich in einer vernetzten Gesellschaft zurechtzufinden (siehe III. Reflexion, S. 79).
Grundlegend für eine systemtheoretische Perspektive auf gesellschaftlichen Wandel ist ein „ökologisches“, systemisches Verständnis von Evolution. Luhmann zufolge vollzieht sich Evolution stets, indem „die Differenz zwischen System und Umwelt durch strukturelle Kopplung überbrückt wird“ (Luhmann 1997, 74). Anders als Charles Darwin, der die biologische Evolution mit der Idee des „survival of the fittest“ als Fortschrittsgeschichte deutete, schreibt Luhmann der voranschreitenden gesellschaftlichen Differenzierung aber keine wertenden oder hierarchisierenden Momente zu.
Stattdessen betrachtet Luhmann Evolution aus der Perspektive selbstreferenzieller, autopoietischer Systeme – also Systeme, die sich aus ihren Elementen selbst erzeugen oder ermöglichen – und verabschiedet damit das Darwinsche Prinzip der „natürlichen Selektion“ durch die Umwelt. Stellt man die Evolutionstheorie auf die Co-Evolution strukturell gekoppelter, selbstreferenziell-geschlossener Systeme um, gibt es auch keine Garantie für Stabilität mehr – vielmehr „müssen diese Systeme selbst für ihre Stabilität sorgen, um weiterhin an Evolution teilnehmen zu können“ (ebd., 427). An die Stelle der Stabilität tritt das Prinzip der Restabilisierung, das gewissermaßen „nachgeschaltet“ ist und nur zum Einsatz kommt, „wenn Variation und Selektion ‚zufällig‘ zusammenwirken“ (ebd.).
Hier wird bereits die grundlegende Kontingenz gesellschaftlicher Wandlungsprozesse deutlich. Restabilisierung ist als dritter Faktor zugleich Voraussetzung und Ende einer evolutionären Sequenz – und führt daher nicht zu Anpassung, sondern, im Gegenteil, zu einer Abweichungsverstärkung: „Die unbeabsichtigt oder jedenfalls unbezweckt erzeugten Auswirkungen auf die Umwelt scheinen zu explodieren“ (ebd., 133). In diesem Sinne ist eine „postdarwinistische“ Evolutionstheorie eine „ökologische“ Theorie: Ihr erscheint Wandel weniger notwendig als kontingent.
Eine solche Perspektive auf Evolution verbindet den historischen Rückbezug mit Zukunftsoffenheit, ausgehend von einer Vielzahl koexistierender Alternativen sowie nichtarbiträrer Verbindungen zwischen dem, was ist, und dem, was war. Weil Evolution demnach ein dynamischer Prozess der kontinuierlichen Neuerfindung ist, bei dem der Faktor Umwelt eine entscheidende Rolle spielt, werden die modernistischen Konzepte von Intentionalität, Planung und freiem Willen gleichsam obsolet. So wie ein Ökosystem kein Zentrum hat, folgt Evolution keinen Richtlinien, die systemisch vorgegeben werden. Und natürlich spielt auch der Mensch keine übergeordnete Rolle, sondern fungiert als ein Element unter vielen innerhalb hochkomplex-verschränkter Systemumwelten.
Dieser evolutionäre Paradigmenwechsel gleicht der Umstellung von einer Kybernetik erster Ordnung auf eine Kybernetik zweiter Ordnung: von steuerbaren Systemen hin zu autopoietischen Systemen, bei denen sich Input und Output wechselseitig bedingen, verbunden durch Feedback-Loops. Beispiele für solche „immanenten“ Systeme sind biologische Organismen, das Bewusstsein, das Klima und auch die Gesellschaft selbst.
Den roten Faden eines systemtheoretischen Evolutionsverständnisses bildet eine Paradoxie: die Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen. „Die Unwahrscheinlichkeit des Überlebens isolierter Individuen oder auch isolierter Familien wird transformiert in die (geringere) Unwahrscheinlichkeit ihrer strukturellen Koordination, und damit beginnt die soziokulturelle Evolution“ (Luhmann 1997, 414). Die evolutionäre Leitfrage lautet deshalb: Wie ist es möglich, dass immer unwahrscheinlichere Strukturen entstehen und als Normalität funktionieren? Die Antwort der Systemtheorie lautet: durch die evolutionäre Umwandlung von „geringer Entstehungswahrscheinlichkeit СКАЧАТЬ