Название: Völkerrecht
Автор: Bernhard Kempen
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Grundbegriffe des Rechts
isbn: 9783811441316
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1. Entstehung von Staaten
Als ein erstes Anwendungsbeispiel des Effektivitätsprinzips im Völkerrecht sind die Voraussetzungen für die Begründung von Staatlichkeit zu nennen. Nach der auf Georg Jellinek zurückgehenden Drei-Elemente-Lehre ist ein → Staat durch das Vorliegen von → Staatsgebiet, → Staatsvolk und → Staatsgewalt gekennzeichnet. Allerding ist nicht jegliche Form von Staatsgewalt ausreichend, vielmehr muss die Staatsgewalt von anderen Staaten unabhängig sein und sich mit Aussicht auf Dauer etabliert haben. Da die → Anerkennung eines Staates nach der heute ganz herrschenden deklaratorischen Theorie nicht als viertes Tatbestandsmerkmal hinzutritt, kommt dem Faktischen – dem Vorliegen effektiver Staatsgewalt – hier augenscheinlich rechtsbegründende Wirkung zu.
Dem ist indes nicht so: Wie bereits vorstehend angedeutet, hat das Effektivitätsprinzip in diesem Fall vor allem Publizitätsfunktion. Da in der dezentral organisierten Völkerrechtsordnung keine Instanz existiert, die autoritativ über das Vorliegen von Staatlichkeit entschiede, ist Zurückhaltung bei einer vorschnellen Bejahung von Staatlichkeit geboten. Bedeutung kommt dem vor allem bei Sezessionsprozessen zu, indem der sezedierende Staatsteil nur und erst dann als eigenständiger Staat anerkannt wird (werden darf), wenn er sich von dem Mutterstaat effektiv und mit Aussicht auf Dauer losgelöst hat. Auch wenn es sich bei dieser Frage um eine wertungsmäßige Prognoseentscheidung handelt, die von den Staaten naturgemäß unterschiedlich beurteilt werden kann, verhindert doch das Abstellen auf die Effektivität der Staatsgewalt, dass Staaten in interne Konflikte hineingezogen werden. In diesem Sinne hat das Effektivitätsprinzip auch eine friedenswahrende Funktion. Darüber hinaus wird durch das Erfordernis der Effektivität der Staatsgewalt verhindert, dass Entitäten als Staaten anerkannt werden, die nicht in der Lage sind, ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen auf dem eigenen Territorium durchzusetzen. Insofern mag von einer Rechtsgewährleistungsfunktion gesprochen werden.
Die Bedeutung der hier als vorrangig angesehenen Publizitätsfunktion lässt sich deutlich im Falle des Untergangs von Staaten belegen. Bekanntlich ist das Völkerrecht bei der Annahme eines Untergangs von Staaten sehr zurückhaltend. Nur und erst, wenn die Staatsgewalt endgültig und dauerhaft entfallen ist, geht ein Staat unter. Das führt dazu, dass bisweilen der Fortbestand eines Staates trotz eigentlichen Entfallens der Staatsgewalt fingiert wird. Mit dem Effektivitätsprinzip steht das nicht notwendigerweise in Widerspruch: Da dem Publizitätserfordernis bereits bei der Entstehung des Staates genügt worden ist, tritt dieser Aspekt beim Entfallen effektiver Staatsgewalt in den Hintergrund. Vorrangig ist aus Sicht des Völkerrechts nun vielmehr das Bestreben, die Entstehung staatsfreier Räume zu vermeiden, indirekt somit wiederum das Ziel der Friedenssicherung.
2. Anerkennung von Regierungen
Vergleichbare Überlegungen gelten für die Anerkennung von Regierungen. Zwar interessiert sich das Völkerrecht im Regelfall nicht für die Frage, ob eine Regierung auf verfassungsmäßige Art und Weise in ihr Amt gelangt ist. Insbesondere nach revolutionären Umbrüchen kann sich aber das Bedürfnis nach einer Anerkennung der neuen Regierung stellen. Auch hier dient das Abstellen auf die Effektivität der Regierung dem Publizitätsgedanken. Mittelbar kommt wiederum der Gedanke der Friedenserhaltung zum Tragen: Indem eine revolutionär an die Macht gelangte Regierung nur und erst bei effektiver Ausübung der Herrschaftsgewalt anerkannt werden darf, wird vermieden, dass auswärtige Staaten in interne Konflikte einbezogen werden.
Eher in den Hintergrund rückt der Publizitätsaspekt dagegen bei der Anerkennung einer De facto-Regierung neben einer De jure-Regierung. Übt beispielsweise eine revolutionäre Gruppierung die effektive Herrschaftsgewalt zwar nicht über das gesamte Staatsgebiet, jedoch über einen Gebietsteil aus, so gebietet es das Interesse der Friedenssicherung, mit dieser Gruppierung völkerrechtliche Beziehungen aufzunehmen.
3. Entstehung von Völkergewohnheitsrecht
Als ein weiteres Beispiel für das Effektivitätsprinzip im hier verstandenen Sinne können die Anforderungen an das Entstehen von → Völkergewohnheitsrecht gelten. Bekanntlich muss hierfür neben dem Vorliegen einer entsprechenden Rechtsüberzeugung (opinio iuris) eine im Regelfall länger andauernde und von der überwiegenden Mehrheit der Staaten praktizierte Übung (consuetudo) hinzutreten.
Durch das Erfordernis der consuetudo wird zunächst einmal gewährleistet, dass das Völkergewohnheitsrecht mit der Rechtswirklichkeit im Wesentlichen übereinstimmt. Die Nähe zwischen Recht und Wirklichkeit erscheint gerade in einer dezentral organisierten, nicht über eigenständige Rechtsdurchsetzungsorgane verfügenden Rechtsordnung wesentlich, da auf diese Art und Weise die praktische Wirksamkeit des Völkerrechts (im oben erstgenannten Sinne) befördert wird. Wenn der parlamentarische Gesetzgeber bei der Setzung von Recht zugleich dessen Realisierungschancen berücksichtigt, so tut er dies aus einem Gebot politischer Klugheit heraus; die Nichtbefolgung einer Norm in der Rechtswirklichkeit nimmt dem jeweiligen Sollenssatz jedenfalls nichts von seiner Rechtsverbindlichkeit. Da das Völkerrecht über keinen zentralen Durchsetzungsmechanismus verfügt, untergrübe die Statuierung von Normen des Völkergewohnheitsrechts, die von vornherein nicht auf eine zumindest regelmäßige Befolgung in der Staatengemeinschaft bauen könnten, die Verbindlichkeit des Völkerrechts insgesamt.
Darüber hinaus tritt mit dem Element der consuetudo wiederum das Publizitätskriterium in den Vordergrund. Ohne das Erfordernis einer verbreiteten Übung könnten in einer ungeschriebenen Rechtsordnung, welche nicht über ein zentrales Publikationsorgan wie das Bundesgesetzblatt verfügt, je nach den eigenstaatlichen Interessen Rechtsregeln behauptet werden. Demgegenüber trägt derjenige Staat, der eine bestimmte Rechtsregel des Völkergewohnheitsrechts behauptet, die Beweislast für dessen Existenz. Das dient zugleich der Rechtssicherheit, indem die Behauptung nicht hinreichend belegbarer Rechtsregeln abgewehrt wird, und damit in einem weiteren Sinne wiederum der Friedenssicherung.
4. Gebietserwerb
Seine wohl deutlichste Ausprägung fand das Effektivitätsprinzip in der Zeit des klassischen Völkerrechts im Recht zur Annexion, indem der militärische Sieg über den gegnerischen Staat, die De facto-Inbesitznahme des feindlichen Territoriums mit dem Recht zu dessen Aneignung honoriert wurde. Heute steht diesem Aneignungstitel regelmäßig das → universelle Gewaltverbot (Art. 2 Ziff. 4 UN-Ch.) entgegen (dazu unter IV. 1.).
Einen indirekten Beleg für die Publizitätsfunktion des Effektivitätsprinzips bietet in diesem Zusammenhang indes die sog. Uti possidetis-Doktrin: Nach dieser Regel, deren völkergewohnheitsrechtliche Geltung freilich bis heute umstritten ist, wurden für die südamerikanischen Staaten nach Erlangung der Unabhängigkeit die bisherigen Verwaltungsgrenzen zu Staatsgrenzen. Entsprechend wurde im Zuge der Dekolonialisierung Afrikas sowie beim Zerfall Jugoslawiens verfahren. Entscheidend für den vorliegenden Zusammenhang ist, dass primär auf die verwaltungsmäßig festgelegten СКАЧАТЬ