Название: Das Schuljahr nach Corona (E-Book)
Автор: Armin Himmelrath
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
isbn: 9783035518665
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1.1Ressourcen
Die sozialen Ungleichheiten in Bezug auf das Homeschooling beginnen bereits bei der Ausstattung, die für eine Umsetzung einer geeigneten Lernumwelt notwendig ist. So gaben Jugendliche der neunten Klassen aus bildungsnahen Haushalten in der letzten PISA-Untersuchung 2018 zu 95,4 Prozent an, dass ihnen ein eigener Raum zum Lernen zur Verfügung steht. Bei Kindern und Jugendlichen, deren Eltern einen geringen (oder keinen) Bildungsabschluss haben, trifft das für 82,7 Prozent zu. Auch ein Computer zur Erledigung von Hausaufgaben ist bei Kindern und Jugendlichen aus bildungshohen Elternhäusern häufiger vorhanden, auch wenn der Unterschied zu bildungsniedrigen Elternhäusern geringer ist, als man vielleicht erwarten würde (95 vs. 87,3 Prozent). Betrachtet man für diese Population, wie stark sie sich von ihren Eltern unterstützt fühlen, zeigen sich für Jugendliche aus bildungsnahen Elternhäusern deutlich höhere Werte, sowohl bei der Unterstützung beim Lernen als auch bei der emotionalen Unterstützung (PISA 2018 Datensatz, eigene Berechnungen).
1.2Anregungsreiches familiäres Umfeld
Neben der Art, wie Eltern ihre Kinder beim Lernen oder emotional unterstützen, gibt es auch andere Indikatoren, die als Merkmal eines anregungsreichen familiären Umfelds gesehen werden können. Die Stiftung Lesen fragt zum Beispiel Eltern von Zwei- bis Achtjährigen in regelmäßigen Abständen, wie oft dem Kind vorgelesen wird. Dabei zeigt sich, dass Eltern mit niedriger Bildung ihren Kindern zu gut 50 Prozent höchstens einmal in der Woche etwas vorlesen. Bei Eltern mit hoher Bildung trifft dies nur auf 21 Prozent zu. Eltern, die häufig vorlesen, beschränken ihre Aktivitäten nicht nur auf das Vorlesen. Sie erzählen ihren Kindern auch viel häufiger ein Märchen ohne Buch, erfinden eine Geschichte frei oder erzählen Geschichten zu Bilderbüchern (Stiftung Lesen 2019).
1.3Ernährung und Gesundheitsverhalten
Laut KIGGS-Studie des RKI nehmen nur 53 Prozent aller Kinder und Jugendlichen aus unteren Sozialschichten täglich ein Frühstück zu sich, während dies 80 Prozent aller Kinder und Jugendlichen aus oberen Sozialschichten tun. Kinder und Jugendliche aus höheren Sozialschichten sind darüber hinaus deutlich häufiger sportlich aktiv, sind deutlich seltener übergewichtig oder adipös, essen deutlich häufiger täglich Obst, nehmen deutlich seltener täglich zuckerhaltige Getränke zu sich, nutzen in deutlich geringerem Umfang exzessiv elektronische Medien und sind deutlich seltener vom Passivrauchen im eigenen Haushalt betroffen. Mehr noch, Mütter von Kindern aus unteren Sozialschichten haben deutlich häufiger während der Schwangerschaft geraucht (Kuntz et al. 2018; RKI 2015).
Wie an diesem sehr kurzem Überblick deutlich geworden sein dürfte, sind die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen nach ihrer sozialen Lage sehr unterschiedlich. Weil die Schulen während der Schulschließungen ihrer Funktion als Institutionen sozialen Ausgleichs nicht in gewohnter Form nachkommen können, ist auch davon auszugehen, dass die amerikanischen Studien zum Einfluss der Sommerferien auf soziale Ungleichheiten auf die aktuelle Situation in Deutschland übertragbar sind. Soziale Ungleichheiten beim Lernfortschritt wie auch gesundheitliche Ungleichheiten sollten während der Corona-Krise deutlich zu Tage treten. So wundert es auch nicht, dass eine aktuelle Umfrage von Forsa im Auftrag des Verbands Bildung und Erziehung e. V. unter 1000 Lehrkräften zu dem Ergebnis kommt, dass 82 Prozent aller Lehrkräfte während der langsamen Öffnungen der Schulen Lernunterschiede von Schülerinnen und Schülern auszugleichen als ihre größte Herausforderung ansehen (in Grundschulen sogar 90 Prozent) – und dies gerade einmal nach knapp zwei Monaten Schulschließung.
2Schulorganisation und Corona
Die Corona-Krise wird nicht nur soziale Ungleichheiten verstärken. Auch schulorganisatorisch ergeben sich große Herausforderungen, die bisher zu wenig diskutiert wurden. Dabei soll an dieser Stelle auf eine kurzfristige und eine langfristige Folge für die Schulorganisation eingegangen werden.
2.1Risikogruppen in der Corona-Krise
Für Politik und Verwaltung wird sich vor allem für sogenannte
«Risikogruppen» die Frage stellen, ob sie zum Präsenzunterricht verpflichtet werden können. Juristisch wird sich vor allem die Frage stellen, wie vorzugehen ist, wenn sich Lehrkräfte im Schulunterricht mit Covid-19 anstecken und daraufhin gesundheitliche Einschränkungen haben oder im schlimmsten Fall sogar daran versterben. Hat dann der Dienstherr gegen seine gesundheitliche Fürsorgepflicht verstoßen? Und besteht diese Pflicht generell oder nur gegenüber Risikogruppen? Bisher setzten die Bundesländer (einen Überblick zu behalten ist an dieser Stelle allerdings schwierig) wohl eher darauf, dass Lehrkräfte mit Vorerkrankungen und Lehrkräfte ab 60 Jahren keinen Präsenzunterricht geben müssen, wenn sie dies nicht wollen. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Beitrags lassen sich aber auch erste Meldungen über Gerichtsentscheidungen finden, die den Bundesländern mehr Spielraum zugestehen – vorausgesetzt, das Infektionsgeschehen bleibt überschaubar und es ergeben sich keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die eine starke Gefährdung von Lehrkräften aufzeigt. Wie die Situation beim Erscheinen dieses Beitrags ist, ist kaum vorauszusagen. In diesem Beitrag soll die Diskussion über die Risikogruppen um einen Aspekt ergänzt werden. Wenn über 60-jährige Lehrkräfte und weitere Risikogruppen keinen Präsenzunterricht geben müssen, dann führt dies zu einer kurz- bis mittelfristigen Anspannung der Personalsituation unter Lehrkräften in Schulen, die in vielen Bundesländern auch vor Corona bereits angespannt war. Betrachtet man nur die Lehrkräfte ab 60 Jahren, so müsste man in den westdeutschen Bundesländern durchschnittlich 11,6 Prozent aller Lehrkräfte zur Risikogruppe rechnen. In den ostdeutschen Bundesländern (mit Berlin) läge ihr Anteil sogar bei 16,2 Prozent. In Thüringen, dem Land mit dem höchsten Anteil über 60-jähriger Lehrkräfte, läge der Anteil sogar bei 19,2 Prozent (Stand: Schuljahr 2018/19). Je nach Bundesland würden also bis zu einem Fünftel der Lehrkräfte zur altersmäßigen Risikogruppe gehören. Hinzu kommen jene Lehrkräfte mit Vorerkrankungen, die unter 60 Jahre alt sind. In Thüringen geht das Bildungsministerium insgesamt von rund 30 Prozent an Lehrkräften aus, die zur Risikogruppe gehören.3
Wie kann man zu einem Regelunterricht zurückkommen, wenn bis zu 30 Prozent aller Lehrkräfte nicht am Präsenzunterricht teilnehmen müssen? Verschärft wird dies über einen bisher kaum diskutierten Fakt: Die Risikogruppen verteilen sich nicht gleich über alle Schulen. In Abbildung 1 ist dies für die Schulen in Thüringen anhand der mindestens 60-jährigen und mindestens 50-jährigen Lehrkräfte dargestellt. Von den 800 allgemeinbildenden Schulen (ohne Förderschulen) haben je nach Schulform zwischen 13 (Grundschulen) und 42 Prozent (Regelschulen) einen Anteil von Lehrkräften ab 60 Jahren von mindestens 25 Prozent. Hier würden also allein aus Altersgründen ein Viertel des Kollegiums zur Risikogruppe gehören. An 2,6 Prozent aller Thüringer Schulen (über alle Schulformen) liegt der Anteil von Lehrern ab 60 Jahren sogar bei 50 Prozent.
Nimmt man die mindestens 50-jährigen Lehrkräfte hinzu, die ebenfalls überproportional Vorerkrankungen haben könnten, sieht man, wie prekär die Altersstruktur an vielen Thüringer Schulen ist. Je nach Schulform setzt sich die Lehrerschaft in 56 bis 93 Prozent aller Schulen mindestens zur Hälfte aus über 50-jährigen Lehrkräften zusammen. An 3,5 Prozent aller Schulen ist jede Lehrkraft mindestens 50 Jahre alt. Auf der anderen Seite findet sich an knapp 20 Prozent aller Schulen (über alle Schulformen) keine einzige Lehrkraft ab 60 Jahren.
Abbildung 1: Altersverteilung an den Thüringer Schulen (Schuljahr 2019/20)
Quelle: СКАЧАТЬ