Schonen schadet. Andreas Müller
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Название: Schonen schadet

Автор: Andreas Müller

Издательство: Bookwire

Жанр: Документальная литература

Серия:

isbn: 9783035514605

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СКАЧАТЬ Sie lernen die Konzepte. Sie lernen ein Verhalten. Und sie knüpfen entsprechende Muster. Eben: wenn man sie lässt.

      Eigentlich hat sich die Natur das auch so gedacht. Kinder unternehmen erste Schritte mit Unterstützung. Dann lernen sie, alleine aufzustehen. Dann zu gehen. Dann herumzurennen. Und es liegt in der Natur der Sache, dass sie dabei immer wieder Bekanntschaft schliessen mit dem Boden – mehr oder weniger unsanft, von Fall zu Fall quasi. Bis vor wenigen Jahren war das normal.

      Es war normal, dass Kinder sich langweilen können. Und wenn sie sich darüber beklagt haben, hiess es höchstens: «Dann bist du selber langweilig.» Es war normal, dass Kinder möglichst rasch auf eigenen Beinen stehen sollten. Und es war entsprechend normal, dass Kinder umfallen können. Die elterliche Reaktion darauf: «Du musst halt besser aufpassen.»

      Unvorstellbar! In der heutigen fürsorglichen Belagerungskultur würde man sich als Eltern dem Verdacht der emotionalen Verwahrlosung der Kinder ausliefern. «Herrje, niemand nimmt sich dem armen Kinde an, wenn es ihm langweilig ist? Was sind das für Rabeneltern?!» Und wo Kinder früher hin und wieder etwas unsanft erfahren mussten, dass die Gravitation nicht erst später im Physikunterricht zur Fallnote werden kann, schützen heute gepolsterte Spielplätze kindliche Knie und Seelen. Die Lektionen im Fach «Lebenstauglichkeit» werden fortwährend aus dem Erziehungslernplan gestrichen.

      «Ersparen» heisst die Strategie, den Kindern die Zumutungen der Welt vom Leibe zu halten. Denn allein schon dieses Laufenlernen ist doch mitunter eine recht aufreibende und beschwerliche Kiste. Das ewige Umfallen, das ewige Aufstehen, mehr auf dem Bauch als auf den Beinen.

      Da erweist sich der Kinderwagen schon als wesentlich komfortabler. Damit kann man den süssen Kleinen viel Mühsal ersparen. Und sich als Eltern auch. Nur trägt logischerweise der vorschriftsgemäss festgezurrte Aufenthalt im Kinderwagen dem – zumindest anfänglich – natürlichen Bewegungsbedürfnis der Kinder in keiner Weise Rechnung. Deshalb braucht es Ablenkungsmanöver. Süssigkeiten beispielsweise, die machen gefügig. Oder Süssgetränke. Jeder moderne, multifunktionale Kinderwagen ist bestückt mit mindestens zwei Trinkflaschen. Und sobald der Wonneproppen einen tiefen Luftzug holt, wird ihm vorsorglicherweise schon Mal der Schoppen in den Mund gesteckt. Betäubung heisst das Programm. Und nicht zu vergessen: Mittlerweile gibt es ja auch Bildschirmmedien für die Knirpse im Kinderwagen. Als «Shut-up-Toys» werden die Geräte mit ihren Spiele-Apps und einem unerschöpflichen Repertoire an Videos bezeichnet. Was etwas despektierlich klingen mag, beschreibt präzis, um was es geht: Klappe halten und ruhig sitzen. Gut, als treu besorgte Eltern kann man sich natürlich auf den schier unbezahlbaren pädagogischen Wert solcher Medien berufen. Computer braucht man ja schliesslich heute in jedem Beruf. Und wer weiss, der Kleine will womöglich Game-Designer werden. Da kann es ja nicht schaden, wenn er schon ein bisschen übt. Und das Verrückte: Es soll übrigens Menschen geben – Erwachsene sogar –, die solchen Schwachsinn wirklich glauben. Aber immerhin: So kann sich der hoffnungsvolle Nachwuchs bereits im Kinderwagen an den Bildschirm gewöhnen und muss sich nicht mit der langweiligen Natur beschäftigen, in der die grünen Bäume nur saisonal die Farbe wechseln und die Tiere sich verstecken. Da würde man sich ja in Geduld üben müssen.

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      Der Bildschirm macht da schon wesentlich mehr Spass. Sogar auf Kommando. Und gegen das laute und lästige Vogelgezwitscher stülpt man dem Spross einfach coole Kopfhörer über die Ohren, vielleicht solche mit lustigen Zeichnungen von Singvögeln drauf. Flasche am Mund, Augen am Bildschirm und Kopfhörer am Ohr – so haben sie Ruhe vor der Welt. Und so lernen die Kleinen, die schlaffe Bequemlichkeit zum Normalfall zu machen. Sie leben im Moment. Und dieser Moment ist subjektiv gesehen höchst behaglich.

      Weder ist es Aufgabe der Kinder, noch sind sie in der Lage dazu, vorauszudenken und sich bewusst zu machen, welche Konsequenzen eine solche Lebensführung haben kann. Dafür haben – beziehungsweise hätten – sie Erwachsene. Das ist – beziehungsweise wäre – Aufgabe der Erziehung.

      Dazu gehörte beispielsweise, dass Kinder lernen, sich mit sich selbst zu beschäftigen, es auszuhalten, wenn es ihnen einen Moment langweilig ist – und etwas dagegen zu unternehmen. Selber. «Selber» ist übrigens eines der Wörter, die den Anfangswortschatz kleiner Kinder prägen. Sie wollen selber – aufstehen, gehen, trinken, Schuhe binden, in den Spinat hauen. Das kann man fördern, aber das braucht seitens der Erwachsenen meist Zeit und gute Nerven. Und es birgt das Risiko, dass es schiefgehen kann – blutige Knie beispielsweise oder Spinat an der Decke. Die Liste liesse sich beliebig verlängern.

      Das alles kann man dem Kind und vor allem sich selber ersparen. Also werden moderne Kinderwagen zu fahrenden Verpflegungs- und Medienposten aufgetunt. Das bindet die Aufmerksamkeit der Jungmannschaft. Deshalb gibt es Kinderwagen mittlerweile auch in verstärkter Ausführung für jene Brocken, die schon längstens laufen könnten – und vor allem sollten.

      Auch die Rücksitze der Autos sind längst digital aufgerüstet worden. Die Kinder sind dadurch nicht mehr gezwungen, die Gegend anzuschauen und die Eltern mit Fragen zu löchern. «Warum überholen uns immer alle?»; «Was ist das für ein farbiger Bogen am Himmel?»; «Warum hat es auf dem Wasser so weisse Spitzen?»; «Darf ich die Mücke totschlagen?» Und besonders beliebt: «Wann sind wir endlich dort?» Die Bildschirme an der Rücklehne und die Stöpsel im Ohr sorgen für Ruhe. Die Kinder vergessen darob sogar, dass sie eigentlich pinkeln müssten. Und die Eltern müssen sich keine Blösse geben, wenn sie die Fragen nicht beantworten können, und sie ersparen sich die zeitvertreibenden Ratespiele à la «Ich sehe was, was du nicht siehst».

      Was Hänschen nicht lernt

      Zum Leben gehört – für die meisten Menschen jedenfalls –, dass nicht überall Milch und Honig fliessen und einem die gebratenen Tauben nicht in den offenen Mund fliegen. Noch bis vor wenigen Jahren war es völlig normal, dass etwas tun muss, wer etwas haben will. Und dass es dabei Eigenschaften gibt, die höchst hilfreich sein können. Impulskontrolle beispielsweise, also die bewusste Steuerung der eigenen Gefühle und Handlungen. Im Alltag ist Impulskontrolle vor allem dann bedeutsam, wenn es darum geht, unangenehme und unbequeme Dinge zu tun. Also häufig. Sie ist verwandt mit der Frustrationstoleranz. Die hilft einem, nicht gleich wegen jedes kleinen Widerstands in Tränen auszubrechen oder die Umgebung zu tyrannisieren. Und Gratifikationsaufschub versteht sich als Fähigkeit, im Moment auf Verlockendes verzichten zu können zugunsten eines längerfristigen Ziels.

      Man muss nicht die Begriffe kennen. Aber es kann nicht schaden, sich der Konzepte dahinter bewusst zu werden. Mit seinem berühmten Marshmallow-Experiment hat Walter Mischel1 die Bedeutung dieser Eigenschaften eindrücklich nachgewiesen. Wer sich als kleines Kind von einer Süssigkeit nicht verführen liess, sondern wartete, konnte später sein Leben signifikant erfolgreicher und glücklicher gestalten. Und noch etwas wurde deutlich: Diese weichenstellenden Eigenschaften werden in der frühen Kindheit aufgebaut. Oder eben nicht. Und mit zunehmendem Alter wird es immer schwieriger. Die Gewohnheiten verfestigen sich. Das Verhalten bildet Muster. Und jedes weitere Verhalten verstärkt diese Muster. So entstehen eine Art Trampelpfade im Gehirn. Wer sich angewöhnt hat (oder wer als Eltern seine Kinder daran gewöhnt hat), einer Situation auf eine bestimmte Art zu begegnen, wird das bevorzugterweise immer wieder so tun. Solange das gute Gewohnheiten sind – also beispielsweise jedes Ding immer gleich an seinen Ort zu versorgen –, erweisen sie sich als durchaus lebensdienlich. Schlechten Gewohnheiten dagegen – also beispielsweise alles dort liegen zu lassen, wo es gerade liegt – wohnt die Tendenz inne, sich zum Problem zu summieren. Häufig auch für die Mitmenschen.

      Erstaunlicherweise sind «Gewohnheiten» und «Verhaltensmuster» Begriffe, die einerseits recht abstrakt und andrerseits irgendwie harmlos erscheinen. Erstaunlicherweise deshalb, weil sie beides nicht sind. Gewohnheiten steuern zwei Drittel unseres Alltagsverhaltens. Was wir tun – und was wir lassen –, ist also meistens auf Gewohnheiten zurückzuführen, auf Verhaltensmuster, die wir im Verlaufe des Lebens aufgebaut und СКАЧАТЬ