Ausbruch. Dominique Manotti
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Название: Ausbruch

Автор: Dominique Manotti

Издательство: Автор

Жанр: Зарубежные детективы

Серия:

isbn: 9783867549646

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      »Nehmen wir an, es wäre so. Erhöht das deine Chancen, davonzukommen?«

      »Zumindest werde ich es versucht haben. Den Gefallen, im Gefängnis zu verrecken, tue ich ihnen nicht. Ich bereue nicht, ich steige nicht aus, ich leugne nichts, und die, die es tun, widern mich an. Denen aber, die gewonnen haben, sage ich, ihr könnt mich mal, ich beschaffe mir mit kleinstmöglichem Risiko Geld und Papiere und haue ab, ich werde anderswo leben, wo ich frei atmen kann.«

      »Seit sie dich vor einem halben Jahr zu den gewöhnlichen Strafgefangenen verlegt haben, habe ich Angst. Ich fand das nicht normal. Ich habe Angst, dass das eine Falle ist. Und jetzt noch dieser Mithäftling ...«

      »Keine Paranoia, Lisa.«

      »Was jetzt, bin ich naiv oder paranoid?«

      »Beides. Mach dir keine Sorgen. Mein Mithäftling und ich haben uns schon getrennt.«

      »Und die Komplizen, von denen in den Zeitungen die Rede ist?«

      »Die Müllfahrer. Das sind keine Politischen, sondern kleine Ganoven. Sie wurden bezahlt, sie sind untergetaucht und sie wissen nichts. Meine beiden derzeitigen Begleiter sind auch keine Politischen, und ich traue ihnen. Lisa, gib mir Zeit, dieses Geld und diese Papiere zu beschaffen, alles ist geplant und organisiert, das wird nicht schwierig, ich werde mich nicht in Gefahr begeben, und danach verschwinde ich ins Ausland. Von dort rufe ich dich an, und du kommst zu mir. Mein nächster Anruf wird der Beginn unseres neuen Lebens sein. Ich liebe dich, Lisa ...«

      »Hör auf. Sei still. Das verkrafte ich nicht. Ich erwarte deinen nächsten Anruf.«

      Sie legt auf. Die Angst ist unvermindert stark. Die Müllmänner sind keine Politischen, sind sie deshalb schon vertrauenswürdig? Kein Risiko, das glaubt sie nicht. Der Tod lauert überall. Sie lehnt sich gegen die Scheibe der Telefonkabine, atmet tief durch.

       Februar/​März, Mittelitalien, im Gebirge

      Filippo läuft in Richtung Nord-Nord-Ost. Es ist sehr schönes Wetter bei klarer Spätwintersonne. Er läuft frühmorgens, in den kältesten Stunden des Tages, um sich aufzuwärmen, macht in der prallen Mittagssonne ein Nickerchen, wäscht sich gelegentlich, nicht oft, in eiskalten Flüssen und sucht nachts Unterschlupf in verfallenen Hütten, unter Büschen, um zu schlafen so gut es eben geht. Er hält sich am Hang, ohne sich allzu weit von der Ebene zu entfernen. In den Dörfern, durch die er kommt, kauft er Brot und Käse. Pro Tag legt er gut zwanzig Kilometer zurück. Die Wege sind steil, das Laufen ist beschwerlich, zumal für ihn, der nie einen anderen Sport getrieben hat als den hektischen Sprint durch die Straßen von Rom, um den Bullen zu entwischen, aber es macht ihm ganz unerwartet Freude. Nach dem Lärm, in dem er die ganzen letzten Jahre gelebt hat, erst in den besetzten Häusern Roms, dann im Gefängnis, entdeckt er jetzt die Stille des Mittelgebirges, gewöhnt sich nach und nach daran, empfindet sie als schützenden Kokon, in den er sich schmiegt, horcht darauf, was sein Körper ihm sagt, seine sich ausbildenden, kräftiger werdenden Muskeln, seine sich tief mit Luft füllende Lunge. Er horcht auf die Wörter und Sätze, die in seinem Kopf Gestalt annehmen, ohne Ordnung und ohne Ziel, und frohlockt darüber, sich frei zu fühlen, ohne Bindungen und ohne Zukunft.

      Eines Tages, er ist schon über eine Woche unterwegs, erblickt er hinter einer Wegbiegung am Übergang zwischen Ebene und Gebirge, gestochen scharf in der Sonne, wie ein zum Greifen nahes Spielzeug die strenge Silhouette einer ganz aus Stein erbauten Stadt, ein von Mauern umringter Wald aus Türmen, ein steinernes Universum in Gelb- und Weißtönen, aus dieser Entfernung keine Spuren menschlichen Lebens.

      Ein Gefühl großer Vertrautheit. Er hat diese Stadt, oder ihren Zwilling, schon einmal gesehen, auf einem großen gerahmten Foto. In der Kneipe Guidoriccio da Fogliano, wo seine Mutter ihn regelmäßig hinschickte, seinen Vater holen, wenn der zu voll war, um allein nach Hause zu finden, hing es hinter der Kasse an der Wand. Auf dem Foto bildeten die steinernen Städte den Gegenpart zu einem Eroberer in Rüstung und seidenem Waffenrock, aufrecht auf seinem Ross, das einzige menschliche Wesen weit und breit in einer mit Befestigungsbauten und Lanzen gespickten weißen Felsenlandschaft vor schwarzem Himmel, im Krieg gegen die ganze Erde und gegen alle Götter, eine bewusste Pose für die Ewigkeit. Die Einsamkeit war sein Reich. Dieser Eroberer menschenleerer Landstriche und verlassener Städte hatte lange Zeit die Tagträume des nach einer Identität suchenden Kindes Filippo bewohnt. Maßlos bewunderte er den großartigen siegreichen Krieger und zugleich Todesengel, der jede Form von Leben um sich herum auslöschte. Wenn er ihn neben sich heraufbeschwor, empfand er eine Mischung aus Angst und Sehnsucht, die ihn wohlig erschauern ließ. Seine besten Kindheitserinnerungen.

      Jetzt, am Ende der Welt auf einer unglaublichen Flucht, holen ihn diese Erinnerungen ein, und auch wenn heute die Angst vor den verlassenen Städten den Ruhm des Eroberers überstrahlt – eine Frage des Standpunkts –, macht dieses vertraute Bild Filippo Mut, gibt ihm das eigentümliche Gefühl, nicht ganz verloren zu sein. Er grüßt die Stadt von fern und setzt seinen Weg fort.

       4. März, Bologna

      Er läuft. Die Tage verrinnen, einer nach dem anderen, ohne Zwischenfälle, alle gleich, die Zeit hat kein Maß mehr. Nach zwei oder drei Wochen taucht eine wuchtige Kirche in Filippos Blickfeld auf, einsam liegt sie zwischen Bäumen auf einem Bergkamm. Er wagt sich bis auf den Vorplatz. Vor ihm fällt der Berg steil ab zu einer bis zum Horizont reichenden Ebene. Zu seinen Füßen, ganz nah, Bologna, mit seinen Türmen, seinen Campaniles, seinem von den neueren Stadtvierteln umschlossenen Altstadtkern aus braunem Stein und rosaroten Ziegeln, lebendiges buntes Treiben, das bis zu ihm heraufschallt. Er verharrt reglos. Durch das viele Laufen hat er schließlich sein Ziel erreicht, den Norden. Bittere Erinnerung an das Verlassenwerden, das ihn genau da hat landen lassen, wo er jetzt ist: auf einem Grat zwischen zwei Welten. Fest steht: Er ist verloren. Angst: »Du musst dich verstecken, bis sich die Lage beruhigt.« Woher weiß er, wann die Lage sich beruhigt hat? Sich verstecken, immerzu? Vor der Kirche beginnt ein Säulengang, halb Weg, halb Treppe, der fast schnurgerade zur Stadt hinunterführt. Die unzähligen gelb und rot gefärbten lichtdurchfluteten Arkaden künden von dem Glück, wieder auf menschliche Gesellschaft zu stoßen, auf belebte Straßen, auf Leute, die sich begegnen, drängeln, vielleicht miteinander reden. Überraschungen, Entdeckungen, Missgeschicke, die tausend Mosaiksteinchen des ständig pulsierenden urbanen Lebens, das Ende der Einsamkeit, dort, ganz nah, ein paar hundert Meter entfernt. Die Verlockung ist zu groß. Ohne länger zu überlegen, beginnt Filippo den Abstieg, fängt an zu rennen, stürmt den Hang hinab, springt von Stufe zu Stufe, mag kommen, was will.

      Nachdem er in einem öffentlichen Bad, beim Frisör und beim Barbier gewesen ist, kauft sich Filippo eine Zeitung und setzt sich auf eine Caféterrasse, um sie bei einem Espresso durchzublättern. Nicht, dass Barbierbesuche oder Zeitunglesen zu seinen Gewohnheiten zählen, aber diese Handlungen scheinen ihm angemessene Rituale zur Feier seiner Rückkehr ins Stadtleben. Er faltet die Zeitung auseinander, wirft achtlos einen Blick darauf und bleibt an der Titelschlagzeile hängen.

      Überschrift: GEHT DER ROTE TERROR WIEDER LOS? Unterzeile: »Ehemaliger Anführer der Roten Brigaden bei missglücktem Bankraub in Mailand getötet.«

      Kumpels von Carlo vielleicht? Der Artikelvorspann springt ihm ins Gesicht:

      Carlo Fedeli, einer der dienstältesten Aktivisten der Roten Brigaden, der vor drei Wochen aus dem Gefängnis geflohen war, wurde gestern vor der Mailänder Filiale der Banca di Sardegna e Piemonte in der Via Del Battifolle 10 bei einem versuchten Raubüberfall getötet ...

      Sein Blick verschwimmt, er krümmt sich auf seinem Stuhl, atmet stoßweise, Tränen steigen ihm in die Augen. СКАЧАТЬ