Название: Die Zukunft erfinden
Автор: Nick Srnicek
Издательство: Bookwire
Жанр: Социология
isbn: 9783862871285
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Im Bemühen um Konsens ein grundlegendes Ziel politischer Willensbildung zu sehen, ist eine weitere folkpolitische Einschränkung von Occupy. Konsens sollte dazu dienen, Entscheidungen für alle akzeptabel zu machen, was wiederum Unmittelbarkeit und Nähe voraussetzt. Der Anarchist David Graeber stellt fest: »Es ist in einer Gemeinschaft, in der jeder jeden persönlich kennt, viel leichter herauszubekommen, was die meisten Mitglieder dieser Gemeinschaft tun wollen, als herauszufinden, wie man die Ansichten derjenigen ändern kann, die das nicht wollen.«91 Doch was auf der einen Ebene – nämlich im Rahmen der erwähnten Gemeinschaft, in der jeder jeden persönlich kennt – gut funktioniert, lässt sich auf einer erweiterten Stufenleiter ungleich schwerer umsetzen. Im Fall einer relativ heterogenen Bewegung wie Occupy drückte sich das Bemühen um Konsens unausweichlich in Forderungen aus, die, wenn sie überhaupt zustandekamen, nichts weiter als den kleinsten gemeinsamen Nenner formulierten.
Letztlich glorifizierte man die Absenz gezielter Forderungen wortreich als irgendwie radikal. Innerhalb der Bewegung kursierte das Argument, Forderungen wirkten polarisierend und spaltend; insofern sie an »institutionelle« Mächte wie etwa den Staat appellierten, entfremdeten sie die Bewegung von sich selbst und verantworteten, dass jene Mächte die Bewegung vereinnahmten.92 Kritikerinnen einer solchen Position haben hingegen auf die durchaus vorhandenen positiven Aspekte einer Polarisierung hingewiesen: Zugespitzte Forderungen mögen manche Beteiligte verschrecken, doch gleichzeitig wirken sie mobilisierend auf andere, die sich für ihre Anliegen stärker engagieren. Und darüber hinaus tragen Zuspitzungen dazu bei, politische Differenzen innerhalb der Bewegung herauszuarbeiten – Differenzen, die in der Praxis häufig ignoriert werden, obwohl sie sich möglicherweise als unüberbrückbar erweisen.93
Auch die plakative Ablehnung jeglicher Form vertikaler Organisation bei Occupy stellte ein Problem dar, das sich insbesondere im Verhältnis zu anderen, mit den Zielen der Bewegung sympathisierenden politischen Gruppierungen zeigte. Während die Bewegungen in Ägypten und Tunesien nachdrücklich die Verbindung zu bestehenden politischen Strukturen der Arbeiterbewegung in ihren Ländern suchten, lehnten die Occupy-Bewegungen im Westen solche Beziehungen weithin ab.94 Die Ablehnung jeglicher vertikalen Organisation nun führte zu dreierlei: erstens zu einer häufig lähmenden Entscheidungsfindung. Wenn Occupy aktiv wurde, ging die eigentliche Aktion in der Regel von einer Untergruppierung aus, die auf eigene Faust handelte, und nur selten von der Vollversammlung mit ihren Konsensentscheidungen.95 Anders gesagt: Horizontalität führte nicht zur politischen Praxis. Zweitens lehrt die Erfahrung, dass hierarchische Organisationsstrukturen von wesentlicher Bedeutung sind, wenn es darum geht, eine Bewegung gegen die Staatsmacht zu verteidigen. Die Verteidigung der Besetzung gegen die polizeiliche Repression war nicht ein Verdienst der Horizontalität, sondern hierarchisch organisierter Gruppierungen, die ihre Mitglieder mobilisierten, um Occupy zu unterstützen.96 In Ägypten spielten Fußballfans und religiöse Organisationen eine zentrale Rolle bei der Verteidigung des Tahrir-Platzes gegen die Gewalt des Staates und der Reaktion.97 Drittens schließlich war die Ablehnung vertikaler Organisationsformen ein wichtiges Moment, das einer räumlichen und zeitlichen Expansion der Bewegung entgegenstand. Verbindungen zu Gewerkschafts- oder Bürgerrechtsgruppen und selbst zu politischen Parteien hätten Occupy Möglichkeiten jenseits folkpolitischer Beschränkungen bieten können. In Ägypten beispielsweise waren es organisierte Arbeiter, die den Massenprotest in einen (Beinahe‑)Generalstreik verwandelten, der das Land lahmlegte und dem Mubarak-Regime den letzten Stoß versetzte.98 In Island, Griechenland und Spanien waren Verbindungen zu politischen Parteien hilfreich und konsolidierten die politischen Erfolge der Besetzungsbewegungen. Occupy hingegen unternahm niemals Schritte, wie sie notwendig gewesen wären, wollte man gesellschaftliche Strukturen umwälzen – trotz des expliziten Bemühens, die eigenen Vorstellungen zu propagieren, und trotz der tatsächlich gewonnenen öffentlichen Aufmerksamkeit.
Letztlich war es jedoch das Beharren auf einer rigiden präfigurativen Politik, das Occupy stark beeinträchtigte. Für eine solche Politik grundlegend ist die Haltung, eine künftige Welt bereits im Heute vorwegnehmen zu wollen – unsere Beziehungen zueinander zu verändern, um die postkapitalistische Zukunft im Hier und Jetzt zu leben. Exemplarische Aktionen wie Besetzungen spielen hierfür eine wichtige Rolle: In den besetzten Räumen soll eine nichtkapitalistische Welt Gestalt annehmen, die sich durch gegenseitige Hilfe, die Ablehnung von Hierarchien sowie eine rigorose direkte Demokratie auszeichnet. Zugleich sind solche Räume ihrem Selbstverständnis und ihrer Struktur nach immer schon temporär. Besetzungen schaffen keine Räume nachhaltiger Veränderung oder des Ausarbeitens konkreter Alternativen, und noch weniger haben sie die Ambition, dem globalisierten Kapitalismus die Stirn zu bieten. Sie sind temporäre Orte der flüchtigen Erfahrung unvermittelter Gemeinschaft.99 Ein Pamphlet einer studentischen Aktionsgruppe, das konkrete Forderungen als »reformistisch« ablehnt, beschreibt eine solche Haltung:
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