Название: Mobile Röntgenstationen
Автор: Jurgis Kuncinas
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
Серия: Literatur aus Litauen
isbn: 9783898968423
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Wenn damals irgendein Alkoholiker den Tag mit schrecklichem Gram beendete, einsam, sein Schicksal verfluchend, sich Branntwein oder Parfüm in die Kehle goss, empfing der Schwindsüchtige, wenn er sich nur bewegen konnte, den Tod wie den herannahenden Frühling, heiß liebend und ebenso heiß geliebt, umgeben von Verehrern (Künstlern, Geistlichen, Deputierten), stets mit Wünschen und Direktiven konfrontiert, auch an die Hinterbliebenen zu denken: Das war Pflicht eines jeden gebildeten Tuberkulose-Kranken. Staats- und Parteifunktionären wurde zuweilen diskret empfohlen sich zu erschießen, es erübrigt sich sicher zu erwähnen, von welchem Staat und welcher Partei hier die Rede ist. In der Nachkriegszeit, als überall Schüsse fielen, baten Erkrankte selbst darum, ihnen lebensgefährliche Aufgaben zu übertragen (Gründung von Kolchosen, Wahlen in abgelegenen Walddörfern), und hatten sie das geschafft, konnte der Abzug des Revolvers auch den Genossen treffen. So mancher Schwindsüchtige trat vor seinem Tod noch in die VKP ein, später in die KPdSU. Wieder gibt es da nichts zu verurteilen, der Mann dachte nicht nur an seinen Grabstein, sondern auch an seine Angehörigen und ihr künftiges Wohl, selbst das von Kindern und Kindeskindern, die irgendwann die Absicht haben würden zu studieren oder eine Dienstreise ins Ausland antreten wollen könnten. Die Biografie des Großvaters war da immer von Nutzen. Einer, der als Kommunist starb, war etwas mehr wert als einer, der während der deutschen Okkupation Dorfältester war oder zu Smetonas Zeiten Direktor einer Milchfabrik, Rechtsanwalt oder dergleichen. Gar nicht zu reden von einem Großvater, der im Wald umgekommen war!
In den Röntgenaufnahmen, die sich noch immer in den Archiven der Mediziner finden, spielen diese Dinge keine Rolle. Da finden sich nur Verschattungen, Flecken, Kavernen, diverse, oft Ungutes verheißende Markierungen, wobei es keine Rolle spielte, ob der Inhaber der Lunge ein KGB-Leutnant war oder, in der Nachkriegszeit, ein fanatischer Intelligenzler, der die halbe Klasse seiner Zöglinge in den Wald schickte. In dieser Eigenschaft ist die Wissenschaft bemüht, sich von der schmutzigen Politik abzugrenzen. Nur ist Objektivität auch in der Wissenschaft, auch in der ganz unschuldigen, wahnsinnig schwer zu erreichen. Ein Spezialist kann selbst die lateinische Grammatik ideologisieren. Und was bedeuten dann schon Geschichte, Geographie oder Physik? Doch obwohl die Bolschewisten zunächst alle Wissenschaft der Welt für Hirngespinste hielten, erdacht von Juden, Kosmopoliten und Freimaurern, schufen sie schon bald ihre Wissenschaft. Aber nein, die Landwirtschaft und die künstliche Besamung in den Ställen leitete weiterhin die Partei, die in ihre Reihen allmählich auch Juden, Kosmopoliten und Freimaurer aufnahm. Hat doch die Wissenschaft die seltsame Eigenschaft voranzuschreiten. So hat sie es immer gehalten, selbst im finsteren Mittelalter. Und auch zu Džugašvilis Zeiten. Sie ist auch darin einzigartig, dass man niemals weiß, was man von ihr zu erwarten hat und erhoffen kann. Immer erschreckt sie einen mit irgendwelchen Späßen, meist bösartigen. Wurde irgendetwas Wertvolles erfunden, erklärte sie selbst, oder es stellte sich eben heraus, dass jene großartige Erfindung äußerst negative, geradezu ekelhafte Seiten hat. Beispiele dafür gibt es, so viele man will. So war es zu allen Zeiten, selbst in der Antike und der bis heute unverdient verehrten Renaissance. Die unschuldigsten Dinge, Medikamente, Farben, Nägel, Konservierungsmittel, Gummiboote, gar nicht zu reden von garstigen Phänomenen der Chemiewissenschaft, wandeln sich, damals wie heute, in Krankheitsherde und Unwohlsein. Ich will gar nicht an synthetische Stoffe erinnern, an wachstumsstimulierende Präparate für Mensch und Tier, Doping und eine Menge anderer Dinge, deren Entdecker hoch geehrt wurden. Chemie ist überhaupt am schlimmsten: Als ich vernahm, dass die Amerikaner nachgewiesen haben, dass selbst alle unsere Gedanken, die erotischen eingeschlossen, hervorgerufen werden von einer – zweifellos hochkomplizierten – chemischen Reaktion in unserer ein wenig gefurchten Hirnrinde, da war ich ordentlich entsetzt und bemühte mich einen halben Tag lang, überhaupt nichts zu denken. Aber was hilft es, man denkt doch trotzdem! Das eben ist Chemie! Indem ich spüre, dass dieses mein Traktat dann auch ein chemisches ist, kann ich aufatmen und alles Elend – Lücken der Argumentation, Unebenheiten des Stils, Abschweifungen vom Thema, diese Rösselsprünge von der Tuberkulose zur Politik, von der Erotik zum Militärwesen usw. – ganz einfach der Chemie anlasten. Nicht Mendelejew natürlich und nicht den schlauköpfigen Amerikanern.
Röntgen war ein Deutscher, der Name ist übrigens recht selten. Klar, dass er auch kein Nazi war. Nie bekam man zu hören, er habe Wagner verehrt, wie Hitler oder Lenin. Ohne es selbst zu wissen, ebnete er den Weg, der zur Atomwaffe führte, er war der erste Physiker, der den Nobelpreis erhielt. Man höre: Nobel und Röntgen. Ein Schwede und ein Deutscher. Zwei Europäer. Der eine erfand das Dynamit, der andere entdeckte jene sonderbaren Strahlen. Der eine kannte den anderen nicht, beriet sich nicht mit ihm. Überhaupt, Schweden und Dynamit. Es will einem nicht in den Kopf. Dreihundert Jahre keinen Krieg geführt, und dann der Welt ein solches Spielzeug bescheren. Und was ist aus seiner Prämie geworden? Eine verspätete Reverenz.
Wilhelm Conrad Röntgen bekam den Nobelpreis. Ein Mensch mit einem tugendhaften Gesicht, ich habe ein Foto von ihm gesehen (keine Röntgenaufnahme). Unzweifelhaft ein Humanist. Und überhaupt: Wer beschuldigt heute die Chinesen, seinerzeit das Schießpulver erfunden zu haben? Jeder Gebildete aus dem Reich der Mitte wird sogleich entgegenhalten, man habe ja auch das Papier erfunden. Und was wäre ohne diese Erfindung selbst das beste WC wert? Nichts.
Die Litauer haben mit all diesen Dingen nichts zu tun, sie erkrankten nur zu allen Zeiten an der Schwindsucht. Klar, sie erkrankten auch an Masern, Windpocken, Scharlach, Angina, an der Pest und den richtigen Pocken, an Epilepsie, Depression, Grippe, an der Krätze und an Parodontose. Aber die Schwindsucht suchte sie besonders heim und kann sich bis heute nicht von ihnen trennen.
Doch was die schlimmen Erfindungen dieses Jahrhunderts betrifft, so haben die Litauer, dieses eine Mal wenigstens, nichts damit zu tun. Eine Kleinigkeit, gewiss, aber angenehm. Wir können unsere Hände und Füße in Unschuld waschen – nichts zu tun mit Röntgen, auch nicht mit Alfred Nobel. Wir werden uns stattdessen weiter herumstreiten wegen der litauischen Abstammung Alexanders von Mazedonien, Iwans des Schrecklichen, Adam Mickevicz’, Dostoevskijs, Tolstojs, Pilsudskis, des Boxers Sharkey und selbst des Papstes. Aber Röntgen und Nobel überlassen wir getrost dem Gewissen der Deutschen und der Schweden.
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