Verfallen. Dorothea Renckhoff
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Название: Verfallen

Автор: Dorothea Renckhoff

Издательство: Bookwire

Жанр: Языкознание

Серия:

isbn: 9783862800766

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СКАЧАТЬ meine besten schwarzen Schuhe mit dünnen Ledersohlen, gut zum Tanzen, und wie hatte ich getanzt in der letzten Nacht des alten Jahres mit Anna im Arm, aber jetzt spürte ich bei jedem Schritt die kalte Erde unter mir, so deutlich, als liefe ich auf Strümpfen. ‚Wir sind gleich da,’ sagte Lucille, in dem aufmunternden Ton, in dem man zu müden Kindern spricht, ich weiß nicht, wem sie Mut machen wollte, sich selbst oder mir.

      Doch wirklich öffnete sich der breite Weg schon vor uns, der hineinführte unter die hohen, alten Bäume, vorbei an dem weißen Gebäude des Restaurants auf seiner Terrasse, zu den geschwungenen Rasenflächen und dem flachen Teich. Ich warf einen sehnsüchtigen Blick zu der Gaststätte hinüber, vielleicht konnte man sich vor der Begräbnisaktion ein wenig aufwärmen, aber die Fenster waren dunkel, das Haus geschlossen, zerrissene Girlanden und ein spärlicher Rest von Ballons erzählten von der Feier der vergangenen Nacht. Kellner und Köche waren todmüde schlafen gegangen, wer sollte jetzt noch etwas Heißes zubereiten für den Leichenschmaus von zwei toten, kleinen Vögeln.

      ‚Wir hätten vielleicht eine Schaufel holen sollen,’ sagte Lucille plötzlich. ‚Wir nehmen einen Ast,’ gab ich zur Antwort, doch es klang zuversichtlicher, als ich mich fühlte.

      Die Eisfläche auf dem Teich war noch fast unversehrt, festgefroren die Ruderboote, nur am Rand gab es eine dunkle Stelle, wo das Wasser schwarz am kahlen Ufer stand. Dicht daneben lag die kleine Wiese mit der alten Trauerweide. Es war ein schöner Platz für zwei Vogelgräber, aber ich wusste es schon, während ich noch nach einem passenden Stock suchte, auch der Boden war noch gefroren, selbst mit einem Spaten hätte ich nichts ausrichten können, und das hätte ich mir auch selbst sagen können, ehe wir diesen nutzlosen Gang antraten. Lucille dachte wohl dasselbe. Wir machten einander keine Vorwürfe; wir standen nur da, ohne richtig zu denken, und sahen stumpf auf das abgestorbene Gras hinunter.

      Dann klappte Lucille mit einem Mal ihren Kragen auf. ‚Ich glaube, er ist auch tot,’ sagte sie; sie zog den kleinen Vogel hervor und schaute ihn an, doch ehe sie ihn anhauchte und mit den Fingern vorsichtig berührte, schloss sie den Mantel rasch wieder unter dem Kinn, so sorgsam, als müsse noch immer ein kleines Tier darunter gewärmt werden. Wir legten das dritte Opfer zu den andern in den Käfig, und mit einem Mal wusste ich, dass ich die Kälte in meinen Füßen keinen Augenblick länger ertragen konnte. Plötzlich war mir alles andere gleich. ‚Ich nehme sie mit nach Hause,’ sagte ich zu Lucille, ‚ich lege sie in den Gefrierschrank, in einer durchsichtigen Frischhaltedose, das ist wie ein Schneewittchensarg, darin bleiben sie unversehrt bis zum Frühjahr. Und wenn das Gras wieder grün ist, nehmen wir sie heraus und gehen noch einmal her, wenn die Blumen blühen, dann machen wir es richtig.’ Lucille stimmte mir zu. Plötzlich hatten wir es beide eilig fortzukommen, als schämten wir uns voreinander für unser kindisches Unternehmen, oder vielleicht auch für die Verzweiflung, die wir einander so offen gezeigt hatten.

      Und doch gaben wir uns die Hand, als wir uns trennten, und verabredeten für den nächsten Morgen ein Treffen vor dem leeren Laden. Vielleicht war ja doch noch auf die Spur der Fremden und ihrer wundersamen Vögel zu kommen.

      Unsere Nachforschungen führten zu nichts.

      In den benachbarten Geschäften und Cafés wusste niemand etwas über das fremde Mädchen und die geheimnisvolle Vogelhandlung. Der Laden stehe seit Wochen leer, sagten sie alle. Keiner hatte mehr irgendwelche Vorgänge in den großen Schaufenstern wahrgenommen, keiner hatte etwas von den wuchernden Pflanzen und blühenden Bäumen gesehen oder von den Kunden, die zumindest am letzten Tag des Jahres mit goldglänzenden Käfigen an der Hand aus der Tür getreten waren. Vielleicht, vermutete der Inhaber einer kleinen Vinothek, die dem leeren Geschäft direkt gegenüber lag, sei das eine dieser Kunstaktionen gewesen, die Leben in tote Winkel bringen sollen, aber zu Silvester sei bei ihm so viel zu tun, dass er auch nicht einen Augenblick Zeit habe, um über die Straße zu schauen, und bedauernd hob er die Schultern. Wir seien nicht die einzigen, die heute solche Fragen stellten, fügte er hinzu, und tatsächlich hatten wir von ferne ein paar unserer Leidensgenossen vom Vortag gesehen, aber zu einer gemeinsamen Aktion hatte offensichtlich niemand von uns Lust.

      Lucille, die mir mit einem Hoffnungsschimmer in den Augen entgegengetreten war, sank bei jeder enttäuschenden Antwort wieder etwas mehr in sich zusammen, und als wir in einer Apotheke unseren letzten Versuch machten, sah sie schon aus wie ein bettelndes Flüchtlingskind, sie sagte auch nichts mehr, alle Fragen musste ich stellen. Doch auch hier schüttelte eine junge Dame im weißen Kittel den Kopf, sie sei die meiste Zeit in der Offizin mit der Zubereitung von Mixturen befasst gewesen, von da habe man keinen Ausblick auf die Straße, und eifrig begann sie von den Salben zu erzählen, die sie auf Rezept habe mischen müssen, eilig und außer der Reihe, für Notfälle, die von einem der Hautärzte im ersten Stock am Silvestermorgen noch behandelt worden seien, sie habe alles darangesetzt, um es bis Geschäftsschluss zu schaffen, denn wenn Dr. Jaeckli sich am letzten Tag des Jahres die Zeit nahm und sich in die Praxis bemühte, dann musste es wohl dringend sein, und schon hatte sie sich in eine engagierte Beschreibung der beiden Mediziner gestürzt, die sehr zum Nachteil von Herrn Haider und zum Vorteil seines Partners ausfiel. Während ich ungeduldig auf eine Atempause wartete, um zu fragen, wer denn, wenn nicht sie, an diesem Vormittag im Verkaufsraum gewesen sei, fiel mir ein Zucken in Lucilles Gesicht auf, und als ich ihrem Blick folgte, sah ich draußen auf der Straße den wütenden Mann vom Tag zuvor; er stand vor dem Schaufenster und starrte zu uns herein, zwischen den strahlenden Gesichtern einer vitamingestärkten Pappfamilie hindurch, aber kaum hatten wir einander erkannt, wandte er den Blick ab und schlenderte weiter.

      ‚Der war auch schon bei mir,’ sagte die junge Dame, ‚er hat dasselbe gefragt wie Sie, aber er glaubt mir wohl nicht, die ganze Zeit schleicht er um die Apotheke herum, ich weiß nicht, was er auf diese Art in Erfahrung bringen will,’ und endlich konnte ich meine Frage loswerden. Ihr Chef sei vorn gewesen, lautete die Antwort, aber der werde frühestens in zwei Stunden hereinkommen.

      Seinetwegen noch einmal hierher zu gehen, erschien mir völlig sinnlos. Auch er würde nichts gesehen haben, aber selbst wenn er etwas wüsste, wozu sollten all die Nachforschungen führen? Wenn wir wirklich dem Mädchen auf die Spur kämen, wenn wir sie fänden und vielleicht sogar die Taschenspielertricks hinter alldem entschlüsselten, so änderte das alles doch nichts an dem, was zwischen Anna und mir vorgegangen war, an ihrer Enttäuschung, an der Kränkung, die ich ihr angetan hatte. Der Bruch zwischen uns war unwiderruflich, und wenn ich auch in allen Einzelheiten erführe, wie es dazu gekommen war, so würde mir das doch nicht im Geringsten weiterhelfen. In diesem Augenblick, als Lucille und ich durch die Tür der Apotheke auf die Straße traten, wurde mir klar, dass all die Suche und die Fragerei der vergangenen Stunden nichts gewesen war als blinder Aktionismus, als das Strampeln eines verlorenen kleinen Tieres, das sich vergeblich gegen das Ertrinken wehrt.

      Es war, als bräche ich durch morsche Bohlen in meinem Innern in eine noch dunklere Verzweiflung als am Tag zuvor. Ich blieb einfach mitten auf dem Bürgersteig stehen, ohne auf Lucille zu achten, ohne mich um die Passanten um uns her zu kümmern, ohne überhaupt einen Kontakt zur äußeren Welt, in einen dumpfen, schwarzen Raum geworfen, wo ich zwischen dicken Lagen nasser Watte nach Luft rang und Glassplitter atmete.

      Nur Lucille habe ich es zu verdanken, dass ich diesen Raum noch einmal verlassen konnte. Irgendwann spürte ich ihre Fingerspitzen, sie strichen über die Innenseiten meiner Handgelenke, unermüdlich, und unermüdlich lebendig, als wollten sie das Blut in meinen Pulsadern fließen fühlen, und dann malten sie Zeichen in meine Handflächen, einen Kringel um den Punkt, wo bei Stigmatisierten die Wundmale liegen, eine Schleife zum Ansatz des Mittelfingers, dann eine schwungvolle Linie zur Handwurzel hinunter, und zum Schluss noch einen kleineren Bogen aufwärts Richtung Daumen, immer wieder dasselbe. Langsam begann ich auch die Luft auf meiner Haut wieder zu spüren, sie war warm, und noch bevor ich wieder etwas sah, roch ich den Duft von Kaffee; dann nahm ich ein Stimmengewirr um mich herum wahr und merkte, dass meine Ellbogen sich auf etwas Festes stützten. Schließlich fand ich mich über ein Stehtischchen gelehnt wieder, in einer Kaffeerösterei, und Lucille dicht neben mir streichelte mir die Pulse СКАЧАТЬ