Zorn der Lämmer. Daniel Wehnhardt
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Название: Zorn der Lämmer

Автор: Daniel Wehnhardt

Издательство: Автор

Жанр: Триллеры

Серия:

isbn: 9783839268162

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СКАЧАТЬ hatte die Junge Garde hingegen ein sicheres Versteck besorgt. Von dort aus hatte der Anführer die Räumung des Gettos miterlebt. Auch seine Mutter war verschont blieben. Im Gegensatz zu seinem Vater, den ein anderes Schicksal ereilt hatte. Zusammen mit anderen Männern hatten die Deutschen ihn zu einem Bahnhof verschleppt, um sie in den Osten umzusiedeln, wie sie es nannten, wenn sie die Juden an die Orte brachten, von denen nie jemand zurückgekommen war. Deshalb befürchtete Abba, dass er seinem Vater am Morgen dieses Tages zum letzten Mal in die Augen gesehen hatte.

      Jetzt spürte er plötzlich eine sanfte Berührung. Vitkas Hand ruhte auf seiner Schulter und schob seine Erinnerungen beiseite.

      »Lass uns gehen«, sagte sie, »Sarah wartet auf uns.«

      *

      Ungläubig starrte Ruzka Korczak ihm ins Gesicht. Er war es tatsächlich: Abba Kovner, der Anführer der Jungen Garde.

      Bisher hatte sie ihn noch nie gesehen, sondern immer nur gehört, wie sich die anderen Mitglieder über ihn unterhielten. Sie alle sprachen von ihm in den höchsten Tönen, und für viele, so bekam Ruzka den Eindruck, stellte er so etwas wie einen Retter dar. Einen Heilsbringer, der sie alle erlösen würde.

      Ein Mensch allein konnte unmöglich solche Erwartungen erfüllen, dachte sie.

      Doch nachdem Abba das Zimmer betreten hatte, erschien es ihr, als habe seine Energie augenblicklich den ganzen Raum erfüllt. Seine Anziehungskraft war gewaltig, und so ertappte Ruzka sich bei dem Gedanken, dass er wie geboren sei für seine Rolle als Anführer. Welch großes Glück sie doch hatten, dass es Vitka gelungen war, ihn an den Deutschen vorbei ins Getto zu schleusen.

      Nun stand Abba leibhaftig neben ihr in dem Krankenhauszimmer. Mit wachen, einfühlsamen Augen schaute er auf das einzige Bett im Raum.

      In ihm lag Sarah. Das Mädchen, auf das Mitglieder der Jungen Garde im Wald gestoßen waren, in dem es sich tagelang vor den Deutschen versteckt hatte.

      Sarah war leichenblass. Obwohl die Schwestern sie mehrmals gekämmt und sich intensiv um ihre Verletzungen gekümmert hatten, war sie noch immer gezeichnet von den Strapazen ihrer Flucht. Als ob jede Zelle ihres Körpers stumme Schmerzensschreie ausstieß.

      »Ich bin Abba«, stellte der Anführer der Jungen Garde sich vor. Behutsam streichelte er Sarahs Hand. Seine Stimme klang warm und kraftvoll. »Ich bin gekommen, um mir deine Geschichte anzuhören.«

      Sarah schaute ihm wortlos in die Augen. Ihr Blick wanderte umher, als ob sie vor den Erwartungen, die die Anwesenden an sie und ihre Erzählungen knüpften, zu fliehen versuchte.

      »Aktion Gelbe Scheine«, flüsterte sie schließlich. »Die Deutschen, sie haben alle aus dem Getto getrieben.« Ruzka erkannte eine Träne, die langsam an der Wange des Mädchens herunterkullerte. »Mein Vater hatte einen Arbeitsschein, das war sein Glück. Für meine Mutter und mich hatte er ein Versteck organisiert, eine dunkle, stickige Kammer. Da haben wir uns zusammen mit den anderen hineingequetscht. Den ganzen Tag lang war es laut auf der Straße. Wir haben Schreie gehört. Trillerpfeifen. Haben gehört, wie die Menschen davongerannt sind.« Sarahs Blick wirkte wie versteinert. »Plötzlich hat jemand die Tür eingetreten. Soldaten haben uns an den Haaren aus der Kammer gezerrt.«

      Wieder verfiel sie in nachdenkliches Schweigen, als ob die Erinnerungen an diesen Tag zu schwer wogen, um sie ohne Pause zu erzählen. Erneut wanderten ihre glasigen Augen haltlos durch das Zimmer. An dem speckigen Fenster, durch das man nach draußen auf den Innenhof sehen konnte, blieben sie haften. Beklemmende Stille erfasste den Raum.

      Nun ließ Abba sich achtsam auf der Matratze des Krankenbetts nieder. »Wohin haben sie euch gebracht?«

      »Sie haben uns zu einer Lichtung gefahren«, antwortete Sarah. Ihre Stimme klang noch brüchiger als zuvor. »Wir mussten uns ausziehen und unsere Sachen auf einen Haufen werfen.« Mit ihren Händen malte sie einen Berg in die Luft. »Dann haben sie uns in den Wald geführt, eine Gruppe nach der anderen. Wir haben Schüsse gehört. Zurückgekommen sind nur die Soldaten. Irgendwann sind wir an der Reihe gewesen.«

      Die Anwesenden lauschten Sarahs Bericht mit hängenden Köpfen und geschlossenen Augen. Nur Abba schaute von Zeit zu Zeit zu ihr hoch. Legte bedächtig seine Hand auf ihre Schulter oder streichelte ihr über den Kopf. Ruzka ertappte sich bei dem Gedanken, dass auch sie gerne seine Hände auf ihrem Körper gespürt hätte.

      In Etappen erzählte Sarah den Rest ihrer Geschichte. Davon, wie sie sich vor den Deutschen im Unterholz versteckt hatte. Wie sie tagelang durch den Nadelwald gekrochen war und dabei den Soldaten, die ihre Fährte aufgenommen hatten, immer wieder nur knapp entkommen war.

      Abba wirkte bestürzt. Ruzka beobachtete ihn von der Seite. Ob sich ihrem Anführer in diesem Augenblick dieselbe Erkenntnis aufgedrängt hatte? Dieses Massaker, dachte Ruzka, veränderte alles.

      *

      Wildes Geschrei erfüllte den Keller des Ratsgebäudes. Leipke Distel hielt sich die Ohren zu. Kopfschüttelnd beobachtete er das Schauspiel, das sich ihm vor seinen Augen bot. Er war der Einzige, der noch ruhig auf seinem Stuhl saß. Das Treffen der Jungen Garde, das Abba einberufen hatte, war völlig aus dem Ruder gelaufen.

      »Wo bist du so lange gewesen?«, fragten einige Mitglieder ihren Anführer.

      In der Tat hatte Abba sich eine Weile nicht blicken lassen. Dann war er plötzlich wie aus dem Nichts im Getto aufgetaucht. Viele waren erschrocken gewesen, als sie ihn wiedersahen, denn Abba hatte sich verändert. In seinen Augen lag nun ein kalter, unbeirrbarer Blick. Er trug schmutzige, zerlumpte Kleider und hatte sich seit Tagen nicht rasiert. Ein seltenes Bild, das alle irritierte. Bisher war er doch dafür bekannt gewesen, großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres zu legen.

      Zu Leipkes Überraschung ging Abba jedoch auf keine der Fragen ein. »Wir müssen uns den Tatsachen stellen«, begann er stattdessen. Obwohl er mit tiefer und fester Stimme sprach, war im flackernden Kerzenschein, der das Gewölbe spärlich beleuchtete, das nervöse Zittern seiner Hände zu sehen. »Die Deutschen sagen, sie hätten unsere Familien und Freunde in den Osten umgesiedelt. Wie wir aber nun durch Sarah wissen, ist das eine Lüge. Sie haben sie alle in den Wald nach Ponary gebracht.« Indem er einzelnen Zuhörern einen Moment lang tief in die Augen sah, verlieh er seinen folgenden Worten noch mehr Gewicht. »Sie haben sie nur aus einem Grund dort hingebracht: um sie alle zu erschießen.«

      Ungläubig wanderten die Blicke der Mitglieder durch den Kellerraum. Selbst für Leipke, dessen Eltern im Rahmen der Umsiedlungsaktion ebenfalls mitten in der Nacht abgeholt worden waren, klang das unvorstellbar. Warum sollten die Deutschen so etwas tun? Schließlich waren es doch die Juden, die ihnen als Zwangsarbeiter in den kriegswichtigen Fabriken dienten. Für Leipke ergab das keinen Sinn.

      Abba ging noch einen Schritt weiter. Er fragte in die Runde: »Wisst ihr, was ich dadurch verstanden habe? Dass das nur der Anfang ist.« Er stemmte die Hände in die Hüften. »Einen anderen Schluss lassen Sarahs Erzählungen nicht zu. Das war keine Einzelmaßnahme. Erinnert euch: Die Deutschen sind organisiert, sie denken systematisch. Womit wir es hier zu tun haben, liebe Freunde, ist eine Maschinerie, und diese Maschinerie dient nur einem einzigen Zweck: Das Judentum in Gänze zu vernichten.«

      Nun meldete sich plötzlich Rachel zu Wort. Dank ihrer lauten, festen Stimme gelang es ihr, die wachsende Unruhe zu übertönen. »Natürlich sind wir alle zutiefst verstört durch das, was Sarah uns berichtet hat«, sagte sie. Um sich der Zustimmung der Anwesenden zu versichern, drehte sie sich kurz zu ihnen herum und sah einigen von ihnen flüchtig in die Augen. »Aber wenn du mit deinen Vermutungen richtigliegst, was schlägst du uns dann vor? Wie sollen wir es schaffen zu überleben?«

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