Michael Bakunin und die Anarchie. Ricarda Huch
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Название: Michael Bakunin und die Anarchie

Автор: Ricarda Huch

Издательство: Bookwire

Жанр: Философия

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isbn: 4064066389048

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СКАЧАТЬ wenn man ihn als krankhaft ansieht, und das taten auch manche, die ihm nähertraten, besonders gegen das Ende seines Lebens. Man konnte das Urteil hören, die ganze Familie Romanow leide an erblicher Geisteskrankheit; ist sie aber nicht der Fluch, der alle trifft, die keinen Widerstand dulden und keinen finden? Die Eigenart Nikolaus', der charaktervoller, aber beschränkter war als sein Bruder Alexander, kam der Ausbreitung des Giftes besonders entgegen. Seine oft beleidigende Gefühlsroheit, die Leere, die er durch hochtrabende Gesten und Worte zu verdecken suchte, der Stolz, der Eigensinn, das Aufblitzen von Größe, die aber immer im Herrischen, nicht in Großmut lag, alles das deutet auf einen Menschen, der den Zusammenhang mit dem Ganzen verloren hat und, von Königsbewußtsein verblendet, dem Abgrund des Königswahnsinns sich nähert. Er liebte es, bei Paraden, Begräbnissen, Einweihungen seine schöne Person zur Schau zu stellen, als spiele er eine Rolle; er spielte sie bis zum letzten Augenblick seines Lebens mit so viel Glanz und Würde, daß er, wäre er ein Schauspieler gewesen, uneingeschränkte Bewunderung genießen würde. Die Anziehungskraft, die er ausübte, verdankte er vielleicht dem russischen Wesen, das nicht selten eine bezaubernde Wirkung ausstrahlen soll; aber auch die seelische Überspannung verleiht zuweilen einen großen Reiz. Es kam oft vor, daß Menschen, die dem Kaiser ein starkes Vorurteil entgegenbrachten, ja, die ihn fortdauernd mißbilligten und beinah haßten, von seiner Persönlichkeit wider ihren Willen hingerissen wurden.

      Es gibt eine Einigung, die gut ist, weil ohne sie das Chaos wäre, die gerade durch ihr Dasein reiches Leben in unzähligen Erscheinungen verbürgt; eine andere, böse dagegen, die daraus besteht, daß ein einziger Mittelpunkt alles Leben an sich zieht und in sich verschlingt, um allein alles zu sein. Eine solche Einheit strebte Kaiser Nikolaus an, das Ideal, das ihm vorschwebte, durch das Motto seiner Regierung bezeichnend: Ein Volk, Ein Gesetz, Ein Glaube. Dies war gerade in Rußland zu verwirklichen unmöglich, einem Riesenreiche, das aus den verschiedenartigsten, durch Zufall und Willkür zusammengeworfenen Teilen bestand, deren Berührung wohl segensreich sein konnte, deren Verschmelzung aber nur gewaltsam und auch durch Gewalt nicht zu erreichen war. Das alte, breite, träge, geheimnisvoll mächtige, lebenbrütende Großrußland, die frische, kriegerische, sagenreiche Ukraine, die deutschen Ostseeprovinzen mit ihrer vornehmen, erstarrten Kultur, die Tüchtigkeit und Unbeugsamkeit Finnlands, eine einsame Welt für sich bildend, die unbändigen kaukasischen Bergvölker, herrlich durch Schönheit und Freiheit, die wilden Kosaken, die hochmütigen, ritterlichen, unlenkbaren und zum Lenken unfähigen Polen, die in Staub getretenen, klugen, wachsamen und geduldigen Juden – wie hätten alle diese Völker unter ein gleiches Gesetz, einen Glauben und eine Sprache gezwungen werden können! Anderseits liegt doch etwas im russischen Lande und im russischen Menschen, das dem Ideal der Uniformität entgegenkommt. Einförmig ist die Natur, und einförmig sind nach Anlage, Bauart und ganzem Charakter die Dörfer und Städte; es heißt, mit einer habe man so ziemlich alle gesehen. Wunderbar steht dem gegenüber die phantastische Herrlichkeit der alten Kirchen und Heiligtümer. Die Einförmigkeit schließt schroffe Gegensätze nicht aus, die nur freiwilliges, allgemeines Leben vermitteln könnte.

      Nikolaus, so groß gewachsen, so stark, so herrisch, war im Grunde zu schwach, um es mit freien Lebensäußerungen aufzunehmen. Arm an Ideen, hielt er sich an sein dürftiges System und erschien standhaft und folgerichtig, weil er nie an sich und seinen Ansichten zweifelte. Es kam ihm nicht in den Sinn, sich in die Menschen, die er bearbeitete, hineinzuvertiefen; so hielt man ihn oft für grausam, während ihm nur die Vorstellung der Außenwelt fehlte. Der Despot ist ein Mechaniker: Er zieht den geregelten Gang des Automaten der widerspruchsvollen Mannigfaltigkeit des Lebens vor und möchte aus den Ländern und Völkern, die er als sein Eigentum betrachtet, ein schnurrendes Räderwerk machen, das abläuft, je nachdem er es aufzieht. In dem Bestreben, alles Eigenleben in Rußland zu unterdrücken, blieb er siegreich, solange er lebte. Die Hinrichtung der fünf Dekabristen, die Nikolaus als die Schuldigsten ansah, die Verbannung der übrigen nach Sibirien erregte zwar Schmerz und Entrüstung unter jenem Teil der Aristokratie, welcher ähnlich dachte; aber er verstummte. Jeder einzelne fühlte das Schweigenmüssen wie ein lähmendes Gift durch seine Adern schleichen. Der Druck lagerte atemraubend und beängstigend auf Rußland; wo kein Kampf zwischen dem starren Vergangenen und dem Künftigen ist, da ist kein geschichtliches Leben. Vier Jahre nach dem Regierungsantritt Nikolaus' des Ersten verfaßte ein sonderbarer, einsiedlerisch lebender Mann, Peter Tschaadajew, ein Schreiben, welches klang wie ein Schmerzensschrei über das Schicksal Rußlands, ausgeschlossen vom Abendlande und seiner Kultur geschichtslos zu veröden. Dies abendländische, von einer gleichartigen Kultur durchdrungene und zusammengehaltene europäische Reich sah er als Reich Gottes an, die Krone der Erde. Nur innerhalb dieses Reiches, meinte er, gebe es eine sinnvolle Entwicklung. Schon sein Ausgangspunkt, das Heldenzeitalter, habe einen Schatz von Erinnerungen überliefert, an welchen wie an einen Brückenpfeiler die Geschichte anknüpfe und der Rußland fehle. »Die Epoche unseres sozialen Lebens, die diesem Alter entspricht, war mit einem düsteren und dunklen Dasein angefüllt, welches der Kraft und Energie entbehrte, von nichts anderem außer von Gewalttaten belebt, nur durch die Knechtschaft gemildert wurde. Weder lockende Erinnerungen und anmutige Bilder leben im Gedächtnis des Volkes noch gewaltige Lehren in seiner Überlieferung. Werfen Sie einen Blick auf alle von uns durchlebten Jahrhunderte, auf den ganzen von uns eingenommenen Raum – Sie werden keine anziehende Erinnerung, kein würdiges Denkmal finden, das Ihnen deutlich von der Vergangenheit spräche, das sie vor Ihnen plastisch und bildhaft wiederschüfe. Wir leben der Gegenwart allein in ihren engsten Grenzen, ohne Vergangenheit und Zukunft, inmitten eines toten Stillstandes.« Dieser Brief, die verzweifelte Klage eines im finsteren Kerker Angeschmiedeten, der das Leben der Freien draußen im goldenen Lichte vorüberrauschen sieht, wurde schon im Manuskript viel gelesen und im Jahre 1836 in einer Zeitschrift abgedruckt. Kaiser Nikolaus, darauf aufmerksam gemacht, las ihn und fand ihn, da er ihn nicht verstand, frech und unsinnig; er handelte vermutlich aus Überzeugung, als er den Verfasser für irrsinnig erklären ließ. Tschaadajew, der als Offizier die Kriege gegen Napoleon mitgemacht hatte, der Freund Puschkins, der schöne, bewunderte Stern aller Salons, die für geistvoll galten, wurde von Staats wegen für irrsinnig erklärt und mußte sich von Zeit zu Zeit den Besuch eines Polizeiarztes gefallen lassen, der ihn zu beobachten hatte. Die Zeitschrift, in welcher der Brief abgedruckt war, wurde verboten. Tschaadajew lebte noch zurückgezogener als sonst; als einsamer Spaziergänger, den Hut tief in die Stirn gedrückt, ging er an den Menschen vorüber, selten sich äußernd und stets bereit, das Gesagte zurückzunehmen, wenn es die Grenze des amtlichen Irrsinns streifte. Der Stillstand des Lebens lastete auf den Menschen als Langeweile, ein furchtbares und verhängnisvolles Übel. Sie quälte am meisten diejenigen jungen Männer, die sich nicht entschließen konnten, in den Staatsdienst zu treten, und dadurch beschäftigungslos waren. Vielleicht kann man sagen, daß die Galgen, an welchen die Revolutionäre aufgehängt wurden, die gleichförmige Ebene des ungeheuren, ungegliederten Reiches vorteilhaft belebten. Das Bedürfnis, fremde Völker, fremde Länder kennenzulernen, ist überall vorhanden; in Rußland herrschte in allen Schichten ein außergewöhnlicher Hang, zu wandern und zu reisen, eine Sucht, den Geist durch den Anblick ungebundenen Lebens zu erfrischen, die die damit verbundenen Schwierigkeiten und Gefahren nur verstärkten. Überall, wo Despotismus besteht und die spontanen Kräfte der Individuen unterbunden sind, stellt sich Langeweile als bedenkliches Symptom ein; sie läßt sich durch Mode und Liebesverhältnisse, durch Theater und Spiele beschwichtigen, wo ein Abglanz bunten und wilden Geschehens den Müßigen vorgeführt wird; aber Leben will Blut, und wo noch Leben ist, kann der Funke leicht von den täuschenden Flammen der Bühne auf den Markt überspringen und zünden.

      Niemand sprach in der Gesellschaft mehr von den Dekabristen außer mit Entrüstung und Verachtung; die Macht des Bestehenden hatte so durchaus gesiegt, daß die öffentliche Meinung sich ihr völlig unterordnete: Es gab keine Opposition mehr. Die unnatürlichen Zustände indessen hörten nicht auf, Hilfe zu fordern, und durch alle Wolken leuchtete das Sternbild der verklärten Toten. Wie der Knabe Mazzini in Genua beim Anblick der Flüchtlinge, die nach der gescheiterten Revolution Italien verließen, sich schwur, ihnen nachzueifern und sie zu rächen, so nährten sich die Herzen junger Russen mit der Leidensgeschichte ihrer ersten Märtyrer der Freiheit. Die Erstlinge einer großen Revolution erscheinen gewöhnlich ungeschickt in der Wahl ihrer Mittel, unfolgerichtig, fast einfältig im Handeln, und doch geht von ihnen die größte Kraft aus; sie fallen, СКАЧАТЬ