Название: Entstellt
Автор: Amanda Leduc
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
isbn: 9783960542520
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Tatsächlich ist es möglich, sowohl von der Gesellschaft als auch durch Schmerzen behindert zu werden, sowohl mit dem vorherrschenden Ableismus als auch mit der Einzigartigkeit des eigenen Körpers und seinen Herausforderungen zu ringen. Behinderung und Nichtbehinderung sind bloß einzelne Punkte im enormen Spektrum menschlicher Vielfalt, und überhaupt auf der Welt zu sein, bedeutet, irgendwo auf diesem Spektrum zu sein – in irgendeiner Weise, Form oder Gestalt.
Analog zu diesem Spektrum von Behinderung ist ein entsprechendes Spektrum von Glück denkbar, auf dem Glück und Unglück, wie Behinderung und Nichtbehinderung, nicht in statischer Form existieren, sondern als dehnbare, veränderliche Eigenschaften. So wie es möglich ist, von Nichtbehinderung zu Behinderung zu gelangen – und durch medizinische und soziale Innovationen auch in die umgekehrte Richtung und wieder zurück –, ist es möglich (und tatsächlich sogar wahrscheinlicher), von Glück zu Unglück und wieder zurück zu gelangen, und das immer wieder im Laufe des Lebens.
Das dürfen wir nur nicht der Prinzessin erzählen. Was bleibt von ihr, wenn sie nicht ihren Prinzen heiraten kann?
In dem Grimm-Märchen ›Das Mädchen ohne Hände‹ besucht der Teufel in Gestalt eines alten Mannes einen Müller und verspricht ihm Reichtümer, wenn er ihm überlässt, was sich hinter seiner Mühle befindet. Der Müller denkt, der Teufel meine einen alten Apfelbaum, und willigt freudig in den Handel ein. Er geht nach Hause, wo seine Frau überglücklich ist über die Juwelen und das Geld, das plötzlich aus allen Schränken quillt, und erst da entdeckt er die Wahrheit: Als er den Handel mit dem Teufel schloss, stand auf der Rückseite der Mühle seine Tochter, wunderschön und fromm.
Nach drei Jahren kommt der Teufel zurück, um das Mädchen zu holen. Zuerst zieht sie einen Kreis um sich und reinigt sich mit Wasser, so dass er nicht zu ihr gelangen kann; als der Teufel darauf wütend den Vater anweist, das Wasser aus dem Haus zu schaffen, weint sie auf ihre Hände und reinigt sie mit ihren Tränen.
»Hack ihr die Hände ab!«, befiehlt der Teufel, und der verängstigte Vater tut, was er verlangt.
Doch das Mädchen weint auf ihre Stümpfe, so dass sie wieder rein sind und der Teufel sich geschlagen geben muss. Der Vater, nun ein reicher Mann, verspricht, sich für den Rest ihres Lebens um die Tochter zu kümmern, doch sie will nicht bleiben. Sie bittet den Vater, ihr ihre abgetrennten Hände auf den Rücken zu binden, und liefert sich der Gnade der Welt aus.
Als sie zu einem königlichen Garten gelangt, fällt sie hungrig auf die Knie und fleht laut zu Gott. Da erscheint ein Engel, der sie in den Garten lässt und ihr Früchte vom Baum bringt. Doch sie wird entdeckt und der Engel verschwindet. Die Wachen halten sie für eine Diebin und werfen sie in den Kerker.
Sie wird vom König gerettet, der sich in sie verliebt. Zur Hochzeit schenkt er ihr ein Paar silberne Hände, die sie statt ihrer echten Hände benutzen lernt. Doch der Teufel, immer noch wütend über seinen vereitelten Plan, ist noch nicht am Ende. Ein Jahr nach der Hochzeit zieht der König in den Krieg und das Mädchen, das nun eine Königin ist, gebiert einen Sohn. Der Teufel fängt den Boten ab, der die freudige Nachricht dem König überbringen soll, und gibt ihm eine falsche Botschaft mit, der zufolge die Königin einen Wechselbalg zur Welt gebracht hat. Als der König die falsche Nachricht liest, ist er verzweifelt, doch da er seine Frau immer noch liebt, schickt er den Boten mit der Nachricht zurück, dass seine Frau und sein Kind geschützt werden müssen.
Doch der Teufel schiebt dem Boten wieder einen gefälschten Erlass unter, der besagt, dass die Königin und das Kind getötet werden sollen. Die alte Mutter des Königs verhilft den beiden zur Flucht aus dem Schloss, und das Mädchen ohne Hände irrt erneut durch die Welt, diesmal mit ihrem Kind.
Sie gelangen zu einer Hütte im Wald, wo ein Engel erscheint und der Königin sagt, dass sie hier unbehelligt bleiben kann. Vierzehn Jahre leben sie dort, bis der König – der sieben Jahre im Krieg war und dann, nachdem er von der Tücke des Teufels erfuhr, weitere sieben Jahre die Wälder nach seiner Familie durchsuchte – sie endlich wiederfindet. Sie kehren zurück ins Schloss und leben glücklich bis ans Ende ihrer Tage.
Die Hände der Königin sind zwischenzeitlich nachgewachsen, so wie Hände im Märchen es eben tun, wenn man nur genug betet.
Wechselbalg ist an sich ein interessanter Begriff, der schon immer untrennbar mit Zauberei verbunden war. Im irischen Volksglauben hielt man Wechselbälger für Kinder von Feen, die mit gesunden Menschenkindern vertauscht worden waren. Feenkinder galten als kränklich und man ging davon aus, dass sie nicht lange leben würden. Familien setzten deshalb ihre »Wechselbälger« draußen in der Kälte zum Sterben aus, in der Überzeugung, sie hätten ihr eigentliches Kind für immer verloren.
Dem Glauben nach vertauschten die Feen die Kinder aus verschiedenen Gründen: damit sie ihnen Gesellschaft leisten oder sie bedienen, oder auch, um sich an den Menschen zu rächen. Gewöhnlich kam der Verdacht, dass ein Kind ein Wechselbalg ist, gleich nach der Geburt auf; in einigen Fällen aber auch erst Jahre später. 1827 ertränkte eine Irin einen ihr anvertrauten drei Jahre alten Jungen im Fluss Flesk, weil er weder sprechen noch laufen konnte und sie »ihm den Wechselbalg austreiben« wollte; 1895 wurde die Irin Bridget Cleary von ihrem Ehemann und anderen Verwandten nach einer kurzen Krankheit ermordet, wobei der Ehemann sich auf die später berüchtigte »Feen-Verteidigung« berief.
Bezeichnenderweise hing der Wechselbalg-Verdacht direkt damit zusammen, ob ein Kind bei der Geburt sichtbare Anzeichen von Behinderungen aufwies oder in seiner späteren Entwicklung ein Verhalten zeigte, das zu jener Zeit als befremdlich galt. So hielt man im 19. Jahrhundert autistische Kinder für Feenkinder: Die Vorstellung, dass Feen viel Zeit mit repetitiven Aufgaben verbringen – etwa dem Zählen von Goldmünzen –, verweist auf dokumentierte Aspekte autistischen Verhaltens. (Wenn es keine weltliche Erklärung gibt, muss es gewiss eine magische Erklärung geben.)
Stellen wir sie uns einen Augenblick vor: Ein Kind, das mit einer Glückshaube geboren wird (die in einigen Kulturen als böses Vorzeichen gilt), ein Junge mit einem Klumpfuß, ein Mädchen mit Spina Bifida, die man frierend und weinend draußen liegen lässt, bis sie nicht mehr sind. Ein Kind, das vor drei Jahrhunderten mit Zerebralparese geboren wird, auch wenn noch niemand weiß, was das ist, nur dass das Kind nicht essen, nicht sprechen und sich nicht umdrehen kann. Gramerfüllte Eltern, die die Feen verfluchen und das Kind in die Kälte legen, damit es verhungert oder erfriert. Kinder, die nicht magisch sind, sondern nur anders.
Wie viele Kinder wir wohl im Laufe der Jahrhunderte an die Kälte und den Schnee verloren haben – keine Kinder von Königinnen und Königen, sondern die einfacher Menschen, die von der Welt nur das wussten, was sie sich abends am Feuer erzählten? Wie viele Leben wurden erstickt oder verschwanden oder durften nie erblühen, wegen der Geschichten, die wir erzählen?
Ann Schmiesing stellt fest, dass ›Das Mädchen ohne Hände‹ einen krassen Gegensatz zu einem Märchen wie ›Hans mein Igel‹ bildet, weil das Mädchen demütig und unterwürfig ist, während Hans mein Igel ein lautstarker Verteidiger seines eigenen Lebens ist. Das Mädchen liefert sich der Welt aus und vertraut darauf, dass die Gesellschaft alle ihre Bedürfnisse befriedigt, während Hans mein Igel sich innerhalb der Beschränkungen des Systems beweisen will. Das Gottvertrauen des Mädchens steht im Kontrast zu Hans mein Igels Wut und Eifer und hat innerhalb der Erzählung ein ebenso starkes Gewicht wie ihre Amputation.
Es liegt nahe, beim ›Mädchen ohne Hände‹ zunächst an das soziale Modell von Behinderung zu denken, bei dem die Gesellschaft die Bedürfnisse behinderter Menschen wahrnimmt. Tatsächlich aber bewegt sich das Märchen im Bereich des Wohltätigkeitsmodells von Behinderung, das viele, wenn nicht alle behinderten СКАЧАТЬ