Im Untergrund. Will Hunt
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Название: Im Untergrund

Автор: Will Hunt

Издательство: Bookwire

Жанр: Книги о Путешествиях

Серия:

isbn: 9783954381302

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СКАЧАТЬ wir nach unten guckten, wurde uns klar, dass wir auf menschlichen Überresten herumgelaufen waren – einem Schienbein, einem Oberschenkelknochen, einer Schädeldecke, alle trocken, glatt und pergamentfarben. Wir spähten um die Ecke und sahen, dass wir am Fuß eines riesigen Turms standen: Tausende von Menschenknochen, die von oben auf eine Rutsche gekippt worden waren und sich in einer chaotischen Kaskade nach unten ergossen hatten. Wir befanden uns inmitten eines Ossuariums unterhalb des Cimetière du Montparnasse.

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      Ende des achtzehnten Jahrhunderts quoll Paris über vor Leichnamen. Die Mauern des Cimetière des Saints-Innocents, des größten Friedhofs der Stadt, gaben nach, und die Leichen ergossen sich in die Keller der benachbarten Häuser. Um den Ausbruch von Seuchen zu verhindern, beschloss die Stadt, ihre Toten in die unterirdischen Steinbrüche auszulagern, die im Lauf der Jahrhunderte immer größer geworden waren. Als letzte Ruhestätte wurde ein zwölftausend Quadratmeter großes Areal mit leeren Stollen im Süden der Stadt ausgewählt, passenderweise unter einer Straße namens Tombe-Issoire. Nachdem die unterirdischen Galerien von einem Priester-Trio offiziell geweiht worden waren, wurden die Skelette auf schwarz verhängten Holzkarren durch die Stadt transportiert und dann in Schächte gekippt, die man in den Straßen geöffnet hatte. Insgesamt wurden die sterblichen Überreste von sechs Millionen Menschen in die unterirdischen Steinbrüche umgebettet. Arbeiter wurden mit der kaum zu bewältigenden Aufgabe in die Katakomben geschickt, die Knochen zu ordnen und zu ansehnlichen Arrangements aufzuschichten.

      Im Dezember 1861 stieg Nadar mit einem Tross von Gehilfen und zwei mit fotografischer Ausrüstung beladenen Loren hinab in die knochengefüllten Korridore. Die unterirdischen Galerien waren 1810 kurzzeitig für Besucher geöffnet, aber wegen Vandalismus schnell wieder geschlossen worden. Als Nadar eintraf, waren sie seit Jahrzehnten für niemanden mehr zugänglich gewesen. In den »Maulwurfshügeln«, wie Nadar sie nannte, traf er auf eine Belegschaft von Arbeitern, die immer noch unter der Erde mit der Ordnung der Skelette beschäftigt waren.

      Damals war es selbst unter den kontrollierten Bedingungen eines Fotoateliers schwierig, eine fotografische Aufnahme zu machen; unter der Erde in den stockdunklen Stollen war es praktisch unmöglich. Der Prozess war unendlich zeitaufwendig. Die Kollodium-Emulsion wurde im Dunkeln verschüttet, die Bogenlampe blieb in den engen Durchgängen stecken, die Batterien produzierten giftige Dämpfe, was in dem beengten Raum eine echte Gefahr darstellte. Jede Aufnahme musste achtzehn Minuten lang belichtet werden, sodass im Laufe eines ganzen Arbeitstags nur ein paar wenige Fotos entstanden; ein Assistent murrte: »Wir werden noch alt hier unten.« Aber Nadar war nicht zu bremsen. Als Fotomodell staffierte er eine Holzpuppe mit einem Bart, Hut, Stiefeln, Arbeitsoverall und Mistgabel zum Verteilen der Knochen aus.

      Nadar produzierte dreiundsiebzig Fotos in den Katakomben, eine stille, surreale Bilderserie. Auf einem Bild war ein frisch aufgeschütteter, ungeordneter Haufen Knochen zu sehen, auf anderen liebevoll aufgeschichtete Knochenfriese, auf wieder anderen die Holzpuppen, die knochengefüllte Loren durch die Gänge schoben. Die Bilder waren, sobald sie in der Société française de photographie gezeigt wurden, umgehend eine Sensation. Nadar wurde zu einer mythischen Figur stilisiert, die den Kosmos der Stadt durchwanderte. Ein Artikel im Journal des débats bezeichnete ihn als »Beelzebub«, den Herrn der Unterwelt; ein anderer bezichtigte ihn, ein Totenbeschwörer zu sein, der »die sterblichen Überreste vergangener Generationen elektrisiert« habe. Eine ganze, bis dahin geheime Dimension der Stadt war mit einem Mal offenbar geworden: »Er und seine Gehilfen«, schrieb ein Journalist, »wühlen in den Eingeweiden der unschuldigen Erde und machen die Menschen mit Szenen vertraut, die nur wenige bis dahin mitangesehen haben.« Nadar wurde zur Sensation von Salons und Cafés, die unterirdischen Bilder waren in aller Munde.

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      Aber es wurde nicht nur geredet. Die Fotos weckten ein Verlangen in den Parisern: Kaum hatten sie einen ersten Eindruck von der Unterseite der Stadt bekommen, wollten sie die Stollen auch berühren, ihren Geruch wahrnehmen, wollten die eigenen Schritte durchs Dunkel hallen hören. Ungefähr zur selben Zeit, in der die Fotografien zum ersten Mal zu sehen waren, wurden auch die Katakomben geöffnet und entwickelten sich sehr schnell zu einer der größten Attraktionen der Stadt. Anfangs ein paar Mal im Monat, dann regelmäßiger bewegten sich Herren in Zylindern und Damen in langen Kleidern in dicht gedrängten Grüppchen durch die Beinhäuser, spähten in die leeren Augenhöhlen braun gewordener Schädel und betrachteten Wände aufgeschichteter Schienbeine im Kerzenlicht. Sie schauderten angesichts der hallenden Akustik und des beklemmenden Gefühls, tief unter der feuchten Erde zu sein; am Ende des Rundgangs ließen viele Besucher heimlich einen Schädel als Souvenir mitgehen. Die Katakomben waren bald so beliebt, dass Gustave Flaubert sich über die Menschenmassen in ihnen empörte, als er sie 1862 mit den Schriftstellern Jules und Edmond de Goncourt besuchte. »Man muss sich mit den vielen Pariser Witzbolden herumschlagen, die sich im Untergrund auf veritable Vergnügungsfahrten begeben«, schrieben die für ihren scharfen Witz berühmten Goncourt-Brüder, »und sich einen Spaß daraus machen, dem Nichts Verwünschungen ins Maul zu schleudern.«

      Gleichzeitig gab es auch den ersten großen Andrang illegaler Besucher – Proto-Kataphile, die sich in den Stollen abseits des offiziellen Rundgangs umsahen. Liebespaare verabredeten sich zum unterirdischen Rendezvous, Jugendliche begaben sich auf abenteuerliche Entdeckungsreisen. Ähnlich wie viele, viele Jahre später wurden auch damals schon geheime Konzerte in den Katakomben organisiert. Einhundert geladene Gäste versammelten sich auf der Rue d’Enfer (Straße der Hölle). Ihre Kutschen hatten sie in einiger Entfernung abgestellt, um keinen Verdacht zu erregen, dann schlüpften sie in den Untergrund. Zwanzig Meter unterhalb der Stadt saß das Publikum, umgeben von auf menschlichen Schädeln brennenden Kerzen, vor einem Orchester mit fünfundvierzig Musikern. Auf dem Programm standen Chopins Trauermarsch und Saint-Saëns mit seinem Danse Macabre.

      Noch eine Stunde weiter in nördlicher Richtung, dann schlugen wir unser Lager in einer viereckigen Kammer auf, die erst im neunzehnten Jahrhundert aus dem Stein gehauen worden war. Wir hängten unsere Hängematten an Eisenringe in der Wand, und Liz und ich kochten Spaghetti mit Thunfisch. Glücklich und erschöpft verzehrten wir schweigend unser Essen. Es war wie Zelten auf dem Mond: Hier unten gab es keine Geräusche, nichts Lebendiges, nur kilometerweit Dunkelheit.

      Als wir uns schlafen legten, fragte Chris, welche Uhrzeit es sei. Moe meinte, wir befänden uns an einem Ort, an dem es von Anbeginn aller Zeiten bei vierzehn Grad Celsius vollkommen dunkel gewesen sei, der sich also jenseits aller natürlicher Rhythmen befand. »Es ist nie Uhr«, sagte er.

      Ich wachte auf und sah eine Frau im Durchgang zu unserer Schlafkammer stehen. In einer Hand hielt sie eine antike, schmiedeeiserne Laterne mit einer zischenden Flamme darin, die ein honiggelbes Licht verströmte. Ich beobachtete, wie sie sich auf Zehenspitzen in die Mitte des Raums bewegte und etwas auf den Boden legte, das wie eine kleine Postkarte aussah.

      »Bonjour«, sagte ich. Sie fuhr zusammen.

      Misty war über vierzig und besuchte die unterirdischen Steinbrüche seit gut fünfundzwanzig Jahren. In dieser Nacht wanderte sie allein durch die Gänge – ohne Karte, wie mir auffiel.

      »Manchmal ist es schön, zum Spazierengehen nach hier unten zu kommen«, sagte sie mit französisch singendem Tonfall. Wie sie es schaffte, dass ihre Stiefel fleckenlos und ihre graue Bluse wie frisch aus der Reinigung aussahen, war mir unklar. Misty bewegte sich in den Steinbrüchen von einem Hohlraum zum nächsten und hinterließ überall kleine Zeichnungen, gemalte Grüße an andere Cataphiles. Für uns hatte sie ein Bild von zwei Händen, die ein Dreieck bilden, hingelegt.

      Es war ein Uhr morgens, als wir den Ausgang aus den Katakomben fanden: eine chatière, die so eng war, dass ich mit den Schultern nur ganz knapp hindurchpasste. Wir befanden uns in einer selten besuchten Ecke der Bergwerksstollen, in der die Decken СКАЧАТЬ