Название: Das Proust-ABC
Автор: Ulrike Sprenger
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
isbn: 9783159618289
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Auf dem mondänen Aquarium lässt der Erzähler mal einen faszinierten, selbst von mondänen Ambitionen und Leidenschaften getriebenen Blick ruhen, mal den eines an ►Balzac geschulten ›Zoologen‹, der den letzten Zufluchtsraum einer aussterbenden Spezies beobachtet.
Aristokratie
Schon in Combray ist Marcel angetan von den Kirchenfenstern, die in bunten Bildern die ruhmreiche Geschichte ihrer adeligen Stifter, der Guermantes, erzählen. Hier bildet sich in ihm, dem Kind gehobener Bürger, die Vorstellung, hinter den prächtigen Farben und den wohlklingenden Namen des örtlichen Adels verberge sich eine allgegenwärtige, mythische Macht, angesiedelt irgendwo zwischen Himmel und Erde. Später, in Paris, wird die ►Strohmatte im Hauseingang der Guermantes zur symbolischen Grenze, die ihn von der geheimnisvollen und begehrenswerten Welt des Faubourg Saint-Germain trennt. Auch wenn im Laufe des Romans die aristokratische Welt entzaubert wird und sie sich im Wesentlichen als Ansammlung wichtig dahinschwätzender, eitler Durchschnittsgestalten entpuppt, kann sich die kindliche Begeisterung verwandeln in eine Faszination, die gerade die negativen Seiten der Aristokratie, ihre Selbstgenügsamkeit und ihre Beschränktheit, als Bedingungen für ein eigenständiges Universum erkennt: »In dieser Weise schließt der schwergewichtige, kaum von Fenstern durchbrochene Bau der Aristokratie, der wenig Licht einfallen lässt und den gleichen Mangel an emporgerichtetem Schwung, aber auch die gleiche massive, blinde Kraft aufweist wie die romanische Architektur, verdrießlich die gesamte Geschichte in seinen Mauern ein.« Indem die Aristokratie in ihrer Selbstüberschätzung die eigentlichen, großen historischen Ereignisse als Nebensächlichkeiten in ihren »schwergewichtigen Bau« einfügt und sie »nur maskiert, entstellt, verkleinert im Namen eines Besitztums oder in den Vornamen einer Frau« auftreten, wird ein gewohntes Wahrnehmungsschema durchbrochen, der herkömmliche Blick auf die Geschichte relativiert und eine neue Perspektive gewonnen. So beschränkt und verschlossen gegen den gesellschaftlichen Alltag und die Tagespolitik die Aristokratie auch sein mag, sie erfüllt damit im historischen Raum – ohne sich dessen bewusst zu sein – eine vergleichbare Funktion wie die sonst vom Erzähler geschätzten Überraschungen, seien es die unwillkürliche ►Erinnerung, ein plötzlicher Perspektivwechsel oder die Begegnung mit einem unbekannten Kunstwerk.
Ab Sodom und Gomorrha kündet der Roman immer deutlicher vom nahenden Untergang dieser obsoleten Gesellschaftsschicht, die sich in ihre Burg oder auch in ihr ►»Aquarium« gerettet hat: Die adeligen Selbstbestätigungsrituale, die Marcel auf der Matinee und der Soiree der Guermantes erlebt, werden in den Beschreibungen des Erzählers begleitet von Zeichen nahender Zerstörung wie Donnergrollen, Erdbeben oder Schwefelregen. Im Ersten Weltkrieg schließlich vollzieht sich das angekündigte Menetekel, Paris erscheint als ein künftiges Pompeji, das die Lebensweisen der Aristokratie als Kuriosität für Archäologen bewahrt.
Arzt
Vater Adrien Proust mit Sohn Robert (sothebys.com)
Proust stammt aus einer erfolgreichen und renommierten Medizinerfamilie, ►Vater wie ►Bruder waren zu seinen Lebzeiten weit bekannter als er: Sein Vater war Generalinspektor des französischen Gesundheitswesens und setzte den hygienischen »Sperrgürtel« durch, der die Weiterverbreitung der Cholera in ►Europa verhindern sollte. Sein Bruder war Chirurg, führte die erste erfolgreiche Prostataentfernung Frankreichs durch und beschäftigte sich auch mit dem ►Hermaphrodismus. In seinen Schriften zur Hygiene zeigt der Vater Adrien Proust sich ganz entschieden dem Humanismus und der Aufklärung verpflichtet: Sein Hygienekonzept sucht in Anlehnung an die antike Selbstsorge einen harmonischen Ausgleich zwischen ►Körper und Geist; die christliche Körperfeindlichkeit sieht er als einen zivilisationsgeschichtlichen Rückschritt. In den Roman gehen immer wieder zeitgenössische Kenntnisse der Medizin ein, die Proust aus der umfangreichen Bibliothek seines Vaters bezieht. Gerade an den Arztfiguren wird jedoch deutlich, dass er dessen optimistisches Körper- und Menschenbild nicht teilt: Den Ärzten gesteht Proust im Roman wenig Kompetenz und Würde zu. Widersprüchliche Diagnosen und Therapievorschläge entlarven die Willkür ihrer Kunst; ihr Interesse gilt weniger einer korrekten Diagnose oder der Heilung des Patienten, als ihn als Kunden an sich zu binden. Die Ärzte des Romans fallen immer wieder durch moralische Zweifelhaftigkeit oder spezifische Dummheit auf: Keiner kann die Großmutter retten, auch wenn jeder eine andere bedeutungsvoll vorgetragene Diagnose ihrer Krankheit bietet; Professor E vermag kaum zu verbergen, dass er den Tod seiner Patientin nicht als Unglück, sondern als Erfolg sieht, insofern dieser seine Diagnose bestätigt, und Cottard als einziger Arzt, dessen medizinische Kompetenz öfter gelobt wird, kann keinen Satz formulieren, ohne eine falsche Redewendung zu gebrauchen.
Mit seinen lächerlichen Arztfiguren knüpft Proust direkt an die Tradition europäischer Komödien an, in denen es vor geldgierigen und geltungssüchtigen Quacksalbern wimmelt. Die geschilderten Eigenschaften belegen darüber hinaus zwei Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Wesens, die der Roman immer wieder geltend macht: Erstens gibt sich, wenn der Arzt nur heilt, um Ruhm und Geld zu gewinnen, die Nächstenliebe einmal mehr als verkappte Eigenliebe im Sinne der ►Moralistik zu erkennen. Zweitens zeigt sich besonders bei Cottard in der Kombination von fachlicher Kompetenz und sozialer Dummheit, dass der Mensch nicht als personale Einheit existiert, sondern sich aus verschiedensten Teilen zusammensetzt, die nicht einmal miteinander kommunizieren müssen. So wie Charlus einen Mann und eine Frau in sich beherbergt, so wie im erwachsenen Erzähler das Kind weiterexistiert, wohnen in Cottard eben ein Genie und ein Dummkopf zusammen. In ►Jean Santeuil fällt Prousts Karikatur der Medizin noch ausgewogener aus: Hier profitieren die Ärzte – wie in den klassischen Komödien – nicht zuletzt von der überspannten Imagination und Hypochondrie ihrer Patienten, den Künstlern.
Austern
Als Statussymbol unter den Nahrungsmitteln gehören sie im Roman zum weiten Feld der gesellschaftlichen Eitelkeit und des ►Snobismus. Auf den Erzähler üben sie eine ästhetische Faszination aus, die nicht frei von Ekel ist: Einerseits bewundert er ihre kontrastreiche Form, die Rauheit mit Glätte vereint und den Charakter des Meeres en miniature wiedergibt – er nennt sie »kleine steinerne Weihwasserbecken« –, andererseits aber mag er sie nicht essen und empfindet den gleichen Abscheu vor ihnen wie vor den ►Quallen am Strand von Balbec, die ihm bei all ihrer Schönheit dennoch sein Badevergnügen verleiden. Albertine hingegen liebt Austern über alles. Wie alle Schnecken, Muscheln und Fische gehören sie damit im Roman zu jener Gruppe dubiosen Getiers, das immer wieder in Zusammenhang mit dem zwiespältigen Verhältnis des Erzählers zum ►Sex gebracht werden kann: Mit Albertine geht es ihm wie mit den Austern; von ihrer Schönheit immer aufs Neue fasziniert, bleibt ihm der eigentliche Genuss versagt. Zugleich kann der Erzähler sein ebenfalls von Anziehung und Distanz geprägtes Verhältnis zur Homosexualität hier verbergen: Mollusken sind häufig Zwitter, ihr natürlicher ►Hermaphrodismus spiegelt die schillernde geschlechtliche Identität des Meeresgeschöpfes Albertine.
Auteuil
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