Название: Über Toleranz
Автор: Voltaire
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Reclams Universal-Bibliothek
isbn: 9783159618135
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Verträgt sich Intoleranz mit Natur- und Menschenrecht?
Das Naturrecht ist das Recht, das die Natur allen Menschen zuteilt und vorgibt. Hat einer sein Kind erzogen, schuldet es ihm Respekt als seinem Vater und Dankbarkeit als seinem Wohltäter. Hat einer mit den eigenen Händen einen Boden bearbeitet, besitzt er das Recht auf dessen Produkte. Hat einer ein Versprechen gegeben oder bekommen, muss es gehalten werden.
Das Menschenrecht kann keinesfalls auf etwas anderem fußen als auf diesem Naturrecht, und das große Prinzip, das universelle Prinzip, das sich aus beiden ableitet, lautet auf der ganzen Welt: »Was man dir nicht tun soll, das tue du auch anderen nicht.« Legt man dieses Prinzip zugrunde, ist nun nicht einzusehen, wie ein Mensch zu einem anderen sagen kann: »Glaube, was ich glaube, und das, was du nicht glaubst, oder du bist des Todes.« So sagt man aber in Portugal, in Spanien, in Goa. In ein paar anderen Ländern begnügt man sich zu sagen: »Glaube, oder ich verabscheue dich. Glaube, oder ich tue dir Übles, so viel ich nur kann. Ungeheuer, du hast nicht meine Religion, du hast also gar keine Religion. Man muss sorgen, dass du deinen Nachbarn, deiner Stadt, deiner Provinz ein Gräuel bist.«
Wenn es sich mit dem Menschenrecht vertrüge, sich so zu verhalten, könnte keiner die Japaner daran hindern, die Chinesen zu verachten, die wiederum die Siamesen hassten; diese würden die Gangariden verfolgen, die ihrerseits über die Bewohner der Indus-Ufer herfielen; ein Mongole [40]würde dem ersten Malabaren, dem er begegnete, das Herz herausreißen; der Malabarer dürfte den Perser umbringen, dieser den Türken massakrieren, und alle zusammen stürzten sich auf die Christen, die sich so lange untereinander zerfleischt haben.
Das Recht auf Intoleranz ist also absurd und barbarisch; es ist das Recht der Tiger. Ja, die Sache ist noch grauenvoller, denn die Tiger zerreißen nur, um satt zu werden, und wir haben uns ausradiert wegen Paragraphen.
[41]Kapitel VII
Gab es bei den Griechen Intoleranz?
Die Völker, von denen uns die Geschichte einige schwache Kenntnis liefert, sahen sämtlich ihre verschiedenen Religionen als Verknüpfungen an, die sie alle miteinander verbanden; eine Gemeinschaft des menschlichen Geschlechts. Es existierte eine Art Anrecht auf Gastfreundschaft unter Göttern genauso wie unter Menschen. Wenn ein Fremder in eine Stadt kam, huldigte er als Erstes den Göttern des Landes. Man versäumte nie, sogar die Götter der Feinde zu verehren. Die Trojaner richteten selbst an jene Götter Gebete, die für die Griechen kämpften.
Alexander fragte in der libyschen Wüste den Gott Ammon um Rat, dem die Griechen den Namen Zeus und die Römer den Namen Jupiter gaben, obwohl die einen wie die anderen ihren Zeus und ihren Jupiter zu Hause hatten. Wenn man eine Stadt belagerte, opferte man den Göttern der Stadt, um sie günstig zu stimmen. So vereinte die Religion die Menschen mitten im Krieg und milderte manchmal ihren Furor; manchmal befahl sie ihnen aber auch inhumane und grauenhafte Handlungen.
Ich kann mich irren, aber ich habe den Eindruck, dass von den zivilisierten Völkern des Altertums kein einziges die Gedankenfreiheit eingeschränkt hat. Alle hatten eine Religion; aber sie gingen, scheint mir, mit den Göttern wie mit den Menschen um. Sie erkannten alle einen einzigen höchsten Gott an, gesellten ihm aber eine ungeheure Vielzahl von Untergottheiten bei. Sie hatten nur einen Glauben, aber sie erlaubten eine große Menge einzelner Subsysteme.
[42]Die Griechen zum Beispiel, so religiös sie auch waren, erachteten für richtig, dass die Epikureer die Vorsehung und die Existenz der Seele leugneten. Von anderen Sekten gar nicht zu reden, die alle die edlen Ideen kränkten, welche man dem höchsten Wesen einfach beilegen muss – und die ebenfalls sämtlich geduldet wurden.
Sokrates, welcher der Erkenntnis des höchsten Wesens am nächsten kam, musste, sagt man, ebendies büßen, und er starb als Märtyrer der Göttlichkeit; er ist der Einzige, den die Griechen wegen seiner Meinungen zu Tode brachten. Wenn dies wirklich der Grund seiner Verurteilung gewesen sein sollte, dann gereicht es der Intoleranz nicht zur Ehre; denn man bestrafte nur jenen, der Gottes Herrlichkeit gerecht wurde, und ehrte all jene, die von der Gottheit die unwürdigsten Vorstellungen gaben. Die Feinde der Toleranz sollten sich, meiner Meinung nach, nicht auf das hässliche Beispiel der Richter des Sokrates stützen.
Es steht übrigens längst fest, dass er das Opfer einer wütend gegen ihn aufgebrachten Partei war. Er hatte sich allerlei Gruppen zu unversöhnlichen Feinden gemacht: die Sophisten, die Rhetoren, die Dichter, die in den Schulen unterrichteten, und sogar alle Hauslehrer, die sich um die Bildung der Kinder von Stand kümmerten. Er gesteht selbst in seiner Rede, die uns Plato übermittelt hat, dass er von Haus zu Haus gezogen sei, um diesen Lehrern zu beweisen, dass sie nicht mehr waren als Ignoranten. Ein solches Verhalten war seiner, den ein Orakel einmal zum weisesten aller Menschen erklärt hatte, nicht würdig. Man ließ einen Priester und einen Rat aus den Reihen der Fünfhundert auf ihn los, die ihn anklagten; wessen genau, ich gestehe es, weiß ich gar nicht; ich finde hierzu nur vage [43]Anhaltspunkte in seiner Apologie. Dort gab er, heißt es, bloß ganz allgemein die Vorwürfe wieder, die man ihm machte: Man unterstelle ihm, er gebe der Jugend Maximen gegen die Religion und gegen die Regierung ein. So verfahren die Verleumder weltweit seit jeher und bis heute. Ein Tribunal muss aber doch erwiesene Fakten präsentieren, dazu präzise und detaillierte Anklageschriften; nichts davon war im Prozess gegen Sokrates gegeben. Wir wissen nur, dass er erst einmal zweihundertzwanzig Stimmen für sich bekam. Das Tribunal der Fünfhundert besaß also zweihundertzwanzig Philosophen; das ist eine Menge; ich zweifle, ob man anderswo so viele auf einem Haufen fände. Die Mehrheit votierte schließlich für den Schierlingsbecher. Aber bedenken wir: Als die Athener wieder zu sich kamen, ergriff sie Abscheu vor den Richtern; Meletos, der Haupturheber des Urteils, wurde für diese Ungerechtigkeit mit dem Tode bestraft; die anderen verbannte man; auch errichtete man einen Tempel zu Ehren des Sokrates. Niemals wurde die Philosophie so stark gerächt und so sehr geehrt. Das Beispiel des Sokrates ist eigentlich das gewaltigste Argument, das man gegen die Intoleranz ins Feld führen kann.
Die Athener hatten einen Altar, der fremden Göttern geweiht war, Göttern also, die sie gar nicht kennen konnten. Gibt es wohl einen stärkeren Beweis nicht nur für Duldsamkeit gegenüber allen Völkern, sondern auch für Respekt vor deren Glauben?
Ein Mann lauteren Sinnes, weder der Vernunft noch der Bildung noch der Redlichkeit noch dem Vaterlande feind, hat kürzlich die Bartholomäusnacht gerechtfertigt. Hierzu führte er den Krieg der Phokier gegen die Spartaner an, [44]genannt der Heilige Krieg. Als wäre dieser Krieg wegen der Religion, wegen eines Dogmas, wegen theologischer Argumente entfacht worden! Es ging einzig darum, wer ein bestimmtes Stück Land bekommen sollte; das Motiv steht eigentlich hinter allen Kriegen. Getreidegarben sind aber keine Glaubensbekenntnisse; um Meinungen willen hat nie eine griechische Stadt zu den Waffen gegriffen. Was übrigens möchte der bescheidene und sanftmütige Mann eigentlich? Will er etwa, dass wir selbst einen Heiligen Krieg beginnen?
[45]Kapitel VIII
Waren die Römer tolerant?
Bei den alten Römern finden wir, von Romulus bis zu der Zeit, da die Christen sich mit den Priestern des Imperiums stritten, nicht einen einzigen Menschen, der wegen seiner Haltung in Religionsdingen verfolgt worden wäre. Cicero zweifelte an allem; Lukrez leugnete alles, und sie ernteten nicht den geringsten Vorwurf. Die Freizügigkeit ging so weit, dass Plinius der Ältere sein Buch damit beginnen durfte, die Existenz eines Gottes zu verneinen; wenn es doch einen gebe, schrieb er, dann sei es die Sonne. Cicero sagt über die Hölle: Non est anus tam excors quae credat – »Nicht einmal ein altes Weib ist so dumm, daran zu glauben«. Juvenal sagt: Nec pueri credunt – »Selbst die Kinder glauben nicht daran« (Satiren II, Vers 152). Man sang auf dem römischen Theater: Post mortem nihil est, СКАЧАТЬ