Название: Literaturvermittlung und Kulturtransfer nach 1945
Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Жанр: Документальная литература
Серия: Edition Brenner-Forum
isbn: 9783706561228
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Der „Entzauberung der Welt“ durch die technische und wissenschaftliche Rationalität wird die Hoffnung auf eine Sakralisierung entgegengesetzt. Ein unerschöpfliches europäisches Thema seit der Aufklärung. Welche Rolle spielen Rilke und Heidegger für Marcel in diesem Prozess?
Gabriel Marcel ist noch von Angelloz’ Behauptung überzeugt, „der Philosoph Heidegger habe, als er die Elegien kennenlernte, behauptet, Rilke habe in poetischer Sprache dieselben Ideen ausgedrückt wie er in seinem großen Werk ‚Sein und Zeit‘“.21 Marcel ist skeptisch, zieht aber eine Parallele zwischen Heideggers Kritik des alltäglichen Geredes und dem Anspruch des Dichters, durch sein Sagen die wahre Existenz der Dinge zu garantieren. Er fügt aber, darin durchaus dem Geist seiner Komödie folgend, hinzu, dass Heidegger unfähig sei, zwischen einem guten und einem schlechten Alltäglichen zu unterscheiden. Doch der entscheidende Unterschied liegt für ihn in der Auffassung des Todes. Er zitiert auf Deutsch Heideggers „Das Sein zum Tode ist wesenhaft Angst“ und grenzt es scharf gegen Rilkes „Doppelbereich“, also die Ununterscheidbarkeit von Tod und Leben ab, in der er eine Variante des christlichen Jenseits zu sehen vermeint. Er gesteht zu, dass er sich damit im Reich des reinen Mythos bewegt, der für ihn jedoch erfahrungsgesättigt ist. Und er stellt die Frage, die unentwegt an Rilkes Dichtung gestellt wurde und weiterhin wird: Handelt es sich um artistische Exerzitien im Geist des l’art pour l’art (Mallarmé, Valéry) oder gar um bloße Hirngespinste (Gefasel)? Marcel hält dieser Deutung Rilkes Selbstauslegungen in seinen Briefen entgegen und betont die „paränetische Tragweite“ der Dichtung. Anders gesagt: Er liest Rilkes Dichtung als Zuspruch und Ermahnung religiöser Natur. Ohne zu ahnen, was Heidegger in dieser Zeit (1942/1943) wirklich von Rilke denkt, kommt er – allerdings mit umgekehrten Vorzeichen – zu einem vergleichbaren Schluss: Heidegger hat den Begriff des „Offenen“ (aletheia/Unverborgenheit bei ihm) als das „tief unwahre Wort“ bezeichnet, das das „völlige Gegenteil“ seines eigenen Denkens darstelle. Es geht dabei im Wesentlichen um folgende Verse aus der 8. Elegie: „Mit allen Augen sieht die Kreatur / das Offene […] das freie Tier hat seinen Untergang stets hinter sich und vor sich Gott, und wenn es geht, so geht’s in Ewigkeit, so wie die Brunnen gehen“ (Vers 1–13). Die Anklage lautet: „verunglücktes Christentum“, vor allem aber „biologische Metaphysik“, „völlige Seinsvergessenheit, die der Psychoanalyse zugrunde liegt“, „Nietzsche und Schopenhauer“. Rilke leugne die einzigartige Position des geschichtlichen Menschen, vermenschliche Tier und Pflanze und vertiere den Menschen.22 Erstaunlich ist folgende Parallele: Marcel schlägt vor, den schwer übersetzbaren Begriff des „Offenen“ durch „le large“, d.h. das offene Meer zu ersetzten.23 Heidegger kommt ebenfalls zum Vergleich mit dem „offenen Meer“: „Das Grenzenlose im Ganzen lässt sich nach einer ungefähren Art zu reden auch ‚Gott‘ nennen.“ (Was Rilke unter Gott oder Göttern versteht, ist eher eine poetische als eine theologische Frage). Heidegger fährt fort: „So fällt in dieser Elegie das Wort: ‚das freie Tier / hat seinen Untergang stets hinter sich / und vor sich Gott, und wenn es geht, so geht’s / in Ewigkeit, so wie die Brunnen gehen.‘“ Marcel hat die negative Möglichkeit ins Auge gefasst, es könne sich um „Gefasel“ handeln. Heidegger ist kategorisch: „Das klingt alles sehr befremdlich und ist doch nur eine dichterische Gestaltung der biologischen Popularmetaphysik des ausgehenden 19. Jahrhunderts“.24 Ein philosophisches Volkslied? (Nach 1945 hat er seine Meinung radikal geändert).
Der Großteil von Marcels Auseinandersetzung mit dem Dichter bleibt ohne Bezug auf Heidegger und beschränkt sich auf ein weitgehend chronologisch geordnetes „direktes“ Gespräch mit den Gedichten Rilkes, seinen Tagebüchern und Briefen, soweit sie 1944 zugänglich waren. Leider sind ihm die Christus-Visionen unbekannt gewesen, erst recht aber Lou Andreas-Salomés Essay Jesus der Jude und Rilkes Reaktion darauf. Michael Georg Conrad, dem Rilke einige Visionen gezeigt hatte, empfahl ihm die Lektüre des Essays, der 1896 in der Neuen Rundschau erschienen war. Rilke war fasziniert. Hier seine Reaktion, mit der übrigens die Liebesbeziehung einsetzt: „und endlich wars wie ein Jubel in mir, das, was meine Traumepen in Visionen geben, mit der gigantischen Wucht einer heiligen Überzeugung so meisterhaft ausgesprochen zu finden. […] durch die schonungslose Kraft Ihrer Worte empfing mein Werk in meinem Gefühl eine Weihe, eine Sanktion.“25
Der kurze, sicher von Nietzsche beeinflusste Text beginnt mit der Feststellung, dass jede Religion Menschenwerk sei, jeder Gott eine historische Konstruktion. Die große Frage ist, warum dieses Menschenwerk über seinen Schöpfer hinauswachsen und ihn sich unterwerfen konnte. Jesus wird zunächst als ein von Gott verlassener jüdischer Prophet gesehen, der einsehen muss, dass Gott seinen Vertrag mit dem jüdischen Volk nicht einhält und der darum elend scheitert. Doch dieser gescheiterte Jude trifft auf die vom Griechentum vorbereitete Jenseitssehnsucht und wird darum zum Schöpfer einer neuen Weltreligion. In den Christus-Visionen, in denen er völlig vermenschlicht ist (z.B. in der erotischen Beziehung zu Maria Magdalena), findet sich die Szene „Judenfriedhof “. Jesus, „der arme Jude, nicht der Erlöser“, besucht das Grab des Rabbi Löw und rechnet mit seinem „greisen Gott Jehovah“ ab, der ihn missbraucht habe. Die Abrechnung geht bis zur Leugnung des Vaters: „das große ‚Er‘“ existiert nicht, der Himmel ist „leer“: „So warst du niemals – oder warst nicht mehr“.26 In den Neuen Gedichten radikalisierte Rilke im Gedicht Der Ölbaumgarten dieses Bekenntnis: „Ich bin allein mit aller Menschen Gram, / den ich durch Dich zu lindern unternahm, / der Du nicht bist. O namenlose Scham… / Später erzählte man: ein Engel kam –.“27 Damit wird nach dem alttestamentarischen greisen Gott auch das Euangelion geleugnet.
Für Marcel ist begreiflicherweise Ausgangspunkt seiner Reflexionen das Stundenbuch, und sofort wehrt er sich gegen die literarische Deutung, dass der werdende, von den Werkleuten geschaffene Gott ein Symbol für das zu vollendende Kunstwerk sei. Immerhin hat Rilke sehr früh und sehr konsequent „Gott das älteste und reparaturbedürftigste Kunstwerk“ genannt. Doch Marcel nimmt den Gott des Stundenbuchs ernst, denn er anerkennt den Sockel des Russlanderlebnisses als authentisch „erfahren“, ebenso die Figur des Heiligen Franziskus im Buch von der Armut und vom Tode. Die Abwehr der pur ästhetischen Deutung von Rilkes Dichtung beruht für Marcel auf „großartigen, nahezu unerforschlichen Grundlagen“.28 Er ist sich aber auch bewusst, dass Rilkes Tendenz zur Grenzüberschreitung etwas „Unbegrenztes, ja Unbestimmtes und eben dadurch Ambivalentes“ an sich habe. Doch stimmt er voll und ganz mit Rilkes Formel überein, die Hans Urs von Balthasar zum Zentrum seines Kapitels über Rilke und Heidegger gemacht hatte, nämlich: „Gott und Tod waren nun draußen, waren das Andere“, und als Konsequenz daraus „beschleunigte sich der kleinere Kreislauf des nur Hiesigen immer mehr, der sogenannte Fortschritt wurde zum Ereignis einer in sich befangenen Welt, die vergaß, daß sie, wie sie sich auch anstellte, durch den Tod und durch Gott von vorneherein und endgültig übertroffen war.“29 Im Stundenbuch holte der Dichter Gott und Tod zurück in die Dichtung. Wie „ambivalent“ es aber dabei zuging, mögen drei radikal divergierende Interpretationen zeigen: die nihilistische Variante Paul de Mans, der in diesen Gedichten nichts sieht als euphonischen Logozentrismus ohne Inhalt, die nazistische Verirrung, hier den deutschen Gott beschworen zu sehen, schließlich den konservativen Aufruf zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus СКАЧАТЬ