Название: Das weibliche Genie. Hannah Arendt
Автор: Julia Kristeva
Издательство: Bookwire
Жанр: Философия
isbn: 9783863935665
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In dem Maße, wie die Psychoanalyse ein heterogenes Subjekt befragt – Trieb und Sinn, Unbewußtes und Bewußtes, Somatisches und Symbolisches –, befindet sie sich an der gleichen Grenze und trägt dazu bei, gemeinsam mit der mütterlichen Begleitung und anders als sie, die Frage des Lebens als Sinn, des Sinns als Leben offen zu halten. Indem sie die psychischen Funktionen eines jeden Individuums angesichts von Geburt und Tod entfalten, indem sie die Strukturen und Dramen des Familiendreiecks analysieren und seine Konsequenzen für die psychische Sexualität und die singulären Denkstrategien eines jeden Subjekts kennen, bewahren die Analytiker in der Fortdauer der menschlichen Gattung die Bestimmung des Individuums, sinnbildend zu sein.
Die mütterliche Liebe für das beliebige Leben – und nicht die Fortschritte der vitalistischen Technik, mit denen diese Liebe sich umgeben kann, noch umgekehrt die vergangenheitszugewandte Ablehnung dieser Fortschritte durch den Konservatismus jener Religionen, die geradezu wild auf Geburtenförderung sind – ist in der Lage, unsere conditio humana als Wesen zu garantieren, die sich Sorgen machen um den Sinn, da zu sein. Unter diesem Blickwinkel und unter Berücksichtigung der Bedrohung, die auf ihm lastet (ein Leben, das manche in »aller Freiheit« technisch reproduzieren möchten, während andere es aus religiösen Gründen ohne jedwede Freiheit aufzwingen wollen), könnte man vorhersagen, daß das Leben im Arendtschen Sinn weiblich oder gar nicht sein wird. Selbstverständlich erlaubt die psychische Bisexualität, wie die Psychoanalyse sie in jeder Person entdeckt, anzunehmen, daß ein Mann diese Weiblichkeit auf sich nehmen, ja sogar die als Spannung der Liebe zwischen zoe und bios definierte Mutterschaft erfahren kann. Und dies wird so lange möglich sein, bis die Technik die Drohung des Todes beseitigt haben wird: Doch wird das je möglich sein?
Es ist bezeichnend, daß eine Frau, eine jüdische Frau, Hannah Arendt, im Schatten der Shoah die Initiative ergriffen hat, die Frage der Geburt neu zu stellen, indem sie der Freiheit zu sein einen neuen Sinn gegeben hat. Dies ist der größte Glanz ihres Genies, das die Krise der modernen Kultur in ihrer Mitte trifft, dort, wo sich ihr Schicksal auf Leben und Tod entscheidet.
59Handschriftl. Gutachten zur Dissertation von Hannah Arendt (1928) aus dem Nachlaß von Karl Jaspers, Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar, Handschriftenabteilung.
60Brief Nr. 389 vom 16. Januar 1966, in: Hannah Arendt, Karl Jaspers, a. a. O., S. 657-658
61Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin – Versuch einer philosophischen Interpretation. Philosophische Forschungen, hg. v. Karl Jaspers, 9. Heft, Berlin 1929, S. 20
62Ebd., S. 11-12
63Zum Beispiel in Vita activa, a. a. O., S. 309-310
64Vgl. Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin, a. a. O., S. 32
65»Transibo ergo et istam vim naturae meae gradibus ascendens ad eum qui fecit me; et venio in campos et lata praetoria memoriae.« Vgl. Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin, a. a. O., S. 33
66Ebd., S. 35
67Ebd., S. 42
68Ebd., S. 46
69Vgl. Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, a. a. O., S. 290 ff.
70Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin, a. a. O., S. 52
71Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1986, § 43: »Dasein, Weltlichkeit und Realität«.
72So im Text von 1942 über »Hölderlins Hymne ›Der Ister‹«: »Wir wissen heute, daß die angelsächsische Welt des Amerikanismus entschlossen ist, Europa, und d.h. die Heimat, und d.h. den Anfang des Abendländischen, zu vernichten. Anfängliches ist unzerstörbar. […] Der verborgene Geist des Anfänglichen im Abendland wird für diesen Prozeß der Selbstverwüstung des Anfanglosen nicht einmal den Blick der Verachtung übrig haben, sondern aus der Gelassenheit der Ruhe des Anfänglichen auf seine Sternstunde warten.« (Vgl. Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 53, Frankfurt am Main 1984, S. 68)
73Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin, a. a. O., S. 63 (Hervorheb. v. mir, J. K.)
74Vgl. Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, Zweiter Teil: Das Wollen, a. a. O.
75Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin, a. a. O., S. 75
76In Ioan. Ep. Tr. VIII, 10: »Non enim amas in illo quod est; sed quod vis ut sit.«
77Vgl. Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin, a. a. O., S. 86
78Brief von Martin Heidegger an Hannah Arendt vom 13. Mai 1925, in: Hannah Arendt, Martin Heidegger, a. a. O., S. 31; für den Brief an Elisabeth Blochmann vgl. Elzbieta Ettinger, a. a. O., S. 35.
79Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, a. a. O.
80Hannah Arendt, Vita activa, a. a. O., S. 83
81Ebd., S. 147 ff.
82Brief von Marx an Kugelmann vom Juli 1868, zit. nach: ebd., S. 409
83Hannah Arendt, Vita activa, a. a. O., S. 116
84Vgl. Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, a. a. O.
85Hannah Arendt, Vita activa, a. a. O., S. 413-414
86Vgl. Julia Kristeva, Sens et non-sens de la révolte, Bd. 1: Pouvoirs et limites de la psychanalyse, Paris 1966, S. 243-255
87Siehe über Hannah Arendt und die Geburt die Pionierarbeit von Françoise Collin, »Du privé et du public«, in: Les Cahiers du Grif, Nr. 33, 1985, S. 47-67 u. »Agir et dormir«, in: Hannah Arendt et la modernité, Paris 1992, S. 27-46.
88Friedrich Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, in: ders., Ecce homo, Abschnitt 1, 2. Satz, zit. nach: Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, a. a. O., S. 260
89Ebd.
90Ebd., S. 442-443
91Johann Wolfgang von Goethe, »Eins und alles« (1821), zit. nach: ebd., S. 421
92Das kommende Wesen ist das beliebige Wesen. In der scholastischen Aufzählung der Transzendentale (quolibet ens est unum, verum, bonum seu perfectum – der beliebig Seiende ist eins, wahr, gut oder vollkommen) ist der Begriff, der in jedem ungedacht bleibt und die Bedeutung aller anderen bedingt, das Adjektiv quolibet […]; quolibet ens ist nicht »das Wesen, gleich welches«, sondern »das Wesen, wie es in jedem Fall von Bedeutung ist«; es setzt anders gesagt bereits einen Verweis auf den Willen voraus (libet): Das СКАЧАТЬ