Название: Vergewaltigung
Автор: Mithu M. Sanyal
Издательство: Bookwire
Жанр: Изобразительное искусство, фотография
isbn: 9783960542469
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Nirgendwo wird die Gleichsetzung des Verlusts der weiblichen Ehre mit dem sozialen Tod so gnadenlos auf den Punkt gebracht wie in dem Satz, Vergewaltigung sei ein »Schicksal, das schlimmer ist als der Tod«, eine Redewendung, die ebenfalls auf das antike Rom zurückgeht, allerdings nicht auf eine lateinische Quelle, sondern auf Band IV der Geschichte vom Verfall und Untergang des römischen Imperiums von 1788. Darin beschreibt der britische Historiker Edward Gibbon die Vergewaltigung römischer Ehefrauen und Jungfrauen durch die Goten als »Gewalttaten … die nach den Maßstäben der Keuschheit schlimmer waren als der Tod«167.
Die Viktorianer griffen das Idiom so begeistert auf, dass es zu der Beschreibung für Vergewaltigung wurde. Doch das Verdienst, es ins 20. Jahrhundert transportiert zu haben, kommt Edward Rice Burroughs und seinem Megabestseller Tarzan bei den Affen zu, in dem die US-Amerikanerin Jane Porter im afrikanischen Dschungel von einem Menschenaffen zu einem »Schicksal tausendmal schlimmer als der Tod«168 entführt wird. Die amerikanische Jane über der Schulter des dunklen Affen war – ebenso wie die plündernden Goten – die perfekte Illustration des Schwarzen169 (barbarischen) Vergewaltigers, der eine weiße Unschuld stahl. Selbstverständlich intervenierte Tarzan, der zwar im Dschungel aufgewachsen, aber als Sohn eines britischen Lords weiß genug war, um Jane und ihre Ehre zu retten, so dass sie später seine Ehefrau und die Mutter seines Sohnes werden konnte.
Dass das zentrale Problem bei einer Vergewaltigung der Raub der Ehre war, ist in dem englischen Wort »rape« – von dem Lateinischen »rapere«, von dem unser Wort »Raub« kommt – noch etymologisch enthalten, ebenso wie in dem deutschen Vorläuferbegriff zu Vergewaltigung, nämlich Notnunft (althochdeutsch notnumft, synonym: Not(h)zucht). Jacob Grimm führt Notnunft auf die germanische Wurzel »Noti neman«, also mit Gewalt (Not) nehmen, zurück, die ursprünglich jede Art von Raub bezeichnete, »doch hat man die ausdrücke notnunft, notzuht allmälich auf die an frauen verübte gewaltthätigkeit eingeschränkt«170. Auf Notnunft stand die Todesstrafe. Allerdings nur, wenn die Frau zuvor eine Ehre besaß, die ihr gestohlen werden konnte. Bei verheirateten Frauen und Witwen wurde ihr Leumund überprüft, bei unverheirateten Frauen ihr Körper. Zu diesem Zweck wurde im 18. und 19. Jahrhundert bei Anzeigen unverheirateter Frauen mit dem sogenannten »Fingertest« (auch bekannt als »Zwei-Finger-Test«) anhand der »Dehnbarkeit« der Vagina überprüft, ob die betreffende Frau Geschlechtsverkehr »ertragen konnte«171. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Jungfräulichkeit eine nahezu hypnotische Wirkung auf Ärzte und Richter, so dass bei Obduktionen von Frauenleichen immer zuerst das Hymen überprüft wurde, um auszuschließen, dass sich die Tote aus Scham über einen Ehrverlust selbst umgebracht habe.172 Jungfräulichkeit bestimmte den Diskurs um Ehre dergestalt, dass die Begriffe gerne synonym verwendet wurden,173 weshalb auch noch nach dem Wegfallen des Konzepts der weiblichen Geschlechtsehre Jungfräulichkeit weiterhin massiven Einfluss auf die Vergewaltigungsdebatten hatte.
Ein Beispiel: Larry King Live ist eine amerikanische Prime-time-Interviewsendung, in die wichtige Menschen des Zeitgeschehens, wie amtierende Präsidenten, berühmte Schauspieler*innen, Literat*innen, Künstler*innen und Unternehmer*innen, eingeladen werden. 2003 wurde Roman Polanski für seinen Film The Pianist für sieben Academy Awards nominiert, konnte aber nicht nach Hollywood reisen, da er dort sofort verhaftet worden wäre, weil er 1977 die damals 13-jährige Samantha Gailey (die inzwischen Geimer heißt) vergewaltigt hatte. Also lud Larry King am 24.2.2003 stattdessen Samantha Geimer in die Sendung ein, wo er sie unweigerlich fragte: »Waren Sie noch Jungfrau?«
Sie antwortete freundlich: »Ich habe gerade nachgerechnet. Nein.«
King war verblüfft: »Sie waren keine Jungfrau?«
»Nein, ich hatte ein paar Monate zuvor meinen ersten Freund kennengelernt.«
Aber noch immer war sich King nicht sicher: »Sie hatten also vorher schon Sex?«174
Offensichtlich beschäftigte ihn diese Frage so sehr, dass er sie, als sie am 7.10.2010 wieder in seine Sendung kam, noch einmal wiederholte: »Sie hatten vorher schon Sex?«
Wieder antwortete Geimer: »Ich hatte schon eine ganze Weile einen Beziehungspartner, und wir hatten bereits miteinander geschlafen, ja.«
»Mit 13 Jahren?«
»Nun, das war wenige Wochen vor meinem 14. Geburtstag, aber ja.«
King ritt nicht etwa auf diesem Punkt herum, weil er ihn verwerflich fand, sondern weil er schlicht nicht in sein Weltbild passte. Also versuchte er es mit einem Kompromiss: »Aber Sie hatten schreckliche Schmerzen, nicht wahr?«
Doch Geimer machte auch das zunichte: »Nein, nein, die ganze Situation war vollkommen anders.«175
Die Vorstellung, dass eine Vergewaltigung nur durch den Schmerz beim Durchdringen des Jungfernhäutchens unerträglich würde, war eine »modernisierte« Form der Idee, dass eine Frau vordringlich an dem Verlust ihrer Ehre = Jungfräulichkeit litt.
Das ist umso interessanter, als bisher niemand das vielbeschworene Jungfernhäutchen gesehen hat.176 Trotzdem hält sich die Überzeugung, dass vor dem ersten Geschlechtsverkehr in der Vaginalöffnung eine dünne Haut gespannt ist, vergleichbar mit der Frischhaltefolie, die die Waren im Supermarkt versiegelt, um anzuzeigen, dass sie unberührt (sic!) sind. Auch der vermeintlich wissenschaftlichere Begriff Hymen ist nur Griechisch für das gleiche Konzept. Hymen bedeutet Membran oder Haut. Tatsächlich handelt es sich bei besagtem Häutchen nicht um eine straffe Haut, sondern um eine Ansammlung von ringförmig angeordneten Schleimhautfalten, eine Korona – ebenfalls griechisch für Kranz oder Krone. »Sprache bestimmt, wie wir denken«, erkannte die Schwedische Vereinigung für aufgeklärte Sexualerziehung RFSU (Riksförbundet För Sexuell Upplysing) entsprechend und entschied, den ideologiebeladenen Begriff Jungfernhäutchen (Schwedisch mödomshinna) abzuschaffen und durch vaginale Korona zu ersetzen.177
Die Korona befindet sich ein bis zwei Zentimeter tief in der Vagina und verschließt diese keineswegs hermetisch. Sollte sie das in Ausnahmefällen doch tun, ist das ein ernst zu nehmendes Problem, das medizinisch behoben werden muss, weil Menstruationsblut und andere vaginale Flüssigkeiten dann nicht abfließen können. Weder wird die Korona von einem eindringenden Penis oder Finger beim »ersten Mal« durchstoßen, noch beim Sport oder anderen körperlichen Aktivitäten zerrissen. Ganz im Gegenteil sind die intimen Hautfalten ziemlich dehnbar. Sie verschwinden auch nicht nach dem ersten Geschlechtsverkehr auf geheimnisvolle Weise, und weniger als die Hälfte aller Frauen bluten. Die berühmten Blutstropfen auf dem Laken sind kein Beweis für die Jungfräulichkeit der Braut, sondern für eine Verletzung, also genau das, wofür Blut – mit Ausnahme von Menstruationsblut – ansonsten auch steht.
Wo Körper keinen eindeutigen Beweis für die weibliche Ehre liefern konnten, obwohl dieser Versuch nichtsdestotrotz weiter unternommen wurde und wird, mussten sie ihn in anderer Weise erbringen. In welcher, wurde wieder an der Geschichte der Lucretia debattiert. Ursprünglich hatte Lucretias Freitod Klarheit geschaffen und nicht nur ihre Unschuld bewiesen, sondern auch ihre Ehre zurückgewonnen. Daraufhin führten ihr Vater und Ehemann die Leiche Lucretias den Römern vor. Und die Römer, die die Gründung ihrer Stadt mit der Massenvergewaltigung der Sabinerinnen begonnen hatten, waren so entsetzt von der Tat, dass sie Sextus Tarquinius umbrachten, seinen Onkel, den bösen König Tarquinius Superbus, aus der Stadt jagten und Rom zur Republik ausriefen.178 Oh ja, und den Raub der Sabinerinnen ebenso wie die Ächtung der Vergewaltigung der Lucretia zu Sinnbildern für die Ideale der römischen Gesellschaft machten.179
Mit dem beginnenden Christentum wurde das jedoch zu einem Problem. Zwar blieb das Konzept der weiblichen Geschlechtsehre СКАЧАТЬ