Trotzdem: Was uns zusammenhält. Группа авторов
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СКАЧАТЬ zur Wiedervereinigung in der Berliner Philharmonie in einem einzigen, inhaltsschweren Satz zusammen: »Der Tag ist gekommen, an dem zum ersten Mal in der Geschichte das ganze Deutschland seinen dauerhaften Platz im Kreis der westlichen Demokratien findet.« 19

      Die Wiedervereinigung Deutschlands bedeutete die Lösung der deutschen Frage. Es gab kein Spannungsverhältnis mehr zwischen Einheit und Freiheit; durch die Mitgliedschaft im Atlantischen Bündnis und die europäische Integration hörte das Land auf, ein Problem der europäischen Sicherheit zu sein. Das wiedervereinigte Deutschland war nun ein postklassischer Nationalstaat wie die anderen Mitgliedstaaten der EU.

      Die Wiedervereinigung Deutschlands bedeutete die Lösung der deutschen Frage in dem dreifachen Sinn, den dieses Jahrhundertproblem seit dem frühen 19. Jahrhundert gehabt hatte: Es gab kein Spannungsverhältnis mehr zwischen Einheit und Freiheit; als territoriales Problem wurde die deutsche Frage dadurch gelöst, dass die Grenzen von 1945 und damit der Verzicht auf die Ostgebiete des Deutschen Reiches in völkerrechtlich verbindlicher Form festgeschrieben wurden; durch die Mitgliedschaft im Atlantischen Bündnis und die europäische Integration hörte das Land auf, ein Problem der europäischen Sicherheit zu sein. Das wiedervereinigte Deutschland war keine »postnationale Demokratie unter Nationalstaaten«, sondern ein postklassischer Nationalstaat wie die anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch – bereit, einige Hoheitsrechte gemeinsam mit anderen auszuüben und andere auf supranationale Einrichtungen zu übertragen.

      Drei Jahrzehnte nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit erscheint nicht mehr so sicher, ob die deutsche Frage 1990 wirklich endgültig gelöst worden ist. Mal ist es das starke wirtschaftliche Gewicht Deutschlands in der Europäischen Union und der Eurozone, das die Rede von einer neuen deutschen Frage aufkommen lässt, mal die Neigung vieler Deutscher, ihr Land – etwa in Sachen Asyl und Migration – zur moralischen Leitnation Europas zu erheben, und der Hang deutscher Politiker, die Europäische Union auf eine sehr deutsch anmutende föderalistische und postnationale Vorstellung von der Finalität des europäischen Einigungsprozesses einzuschwören.

      Dreißig Jahre nach der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands erscheint die »vorbehaltlose Öffnung gegenüber der politischen Kultur des Westens« nicht mehr als eine Errungenschaft, die auf Dauer gesichert ist. Erfolgen konnte die Öffnung nur dort, wo es die Möglichkeit der freien selbstkritischen Auseinandersetzung mit der nationalen und namentlich der nationalsozialistischen Vergangenheit gab: im Westen des geteilten Deutschland. Die DDR hat, herrschaftssoziologisch betrachtet, einen viel radikaleren Bruch mit der deutschen Geschichte vollzogen als die Bundesrepublik, die ehemaligen Nationalsozialisten in großer Zahl die Fortsetzung oder den Beginn neuer beruflicher Karrieren ermöglichte. Der »verordnete Antifaschismus« der SED erreichte aber nicht dieselbe gesellschaftliche Tiefenwirkung wie die offen ausgetragenen Geschichtskontroversen im Westen Deutschlands. Unter der Decke der offiziellen Ideologie konnten in der DDR deutschnationale Geschichtsdeutungen und Ressentiments überleben, die in der Bundesrepublik seit den 1960er-Jahren weithin verpönt waren. Die radikale Ungleichzeitigkeit der deutschen Nachkriegsgeschichte wirkt bis heute fort. Sie erklärt zu einem guten Teil auch, warum eine nationalistische Partei wie die Alternative für Deutschland in den neuen Bundesländern sehr viel mehr Zulauf hat als in den alten.

      Ein verantwortlicher Umgang mit der Geschichte zielt darauf ab, verantwortliches Handeln in der Gegenwart möglich zu machen. Daraus folgt zum einen, dass sich die Deutschen durch eine Betrachtung ihrer Geschichte nicht lähmen lassen dürfen. Zum anderen gilt es, politische Entscheidungen nicht dadurch zu überhöhen, dass man sie als die jeweils richtige Lehre aus der deutschen Vergangenheit ausgibt.

      Die Öffnung gegenüber der politischen Kultur des Westens wird nicht nur durch Nachwirkungen der deutschen Teilung, sondern auch durch alles infrage gestellt, was auf eine politische Instrumentalisierung des Holocaust hinausläuft: die Berufung auf ein vermeintlich vorbildliches Lernen aus den nationalsozialistischen Verbrechen in der Absicht, der eigenen Politik eine höhere Legitimation zu verschaffen, ja für Deutschland eine überlegene Sondermoral zu beanspruchen. Ein verantwortlicher Umgang mit der Geschichte zielt darauf ab, verantwortliches Handeln in der Gegenwart möglich zu machen. Daraus folgt zum einen, dass sich die Deutschen durch eine Betrachtung ihrer Geschichte nicht lähmen lassen dürfen. Zum anderen gilt es, politische Entscheidungen nicht dadurch zu überhöhen, dass man sie als die jeweils richtige Lehre aus der deutschen Vergangenheit ausgibt.

      Deutschland ist erst spät, im Gefolge des katastrophalen Scheiterns seiner Auflehnung gegen die politischen Ideen des Westens, zu einer liberalen westlichen Demokratie geworden. Aus seiner Geschichte lässt sich ableiten, dass es hinter die nach 1945 gewonnenen Einsichten nicht zurückfallen darf. Die deutsche Spaltung wird erst dann wirklich überwunden sein, wenn sich diese Erkenntnis in beiden Teilen des vereinigten Deutschland gleichermaßen durchgesetzt hat.

      Drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung gilt es aber auch, eine andere, neue Spaltung zu überwinden: die Spaltung der deutschen Gesellschaft, hervorgerufen durch die Corona-Pandemie von 2020. Der soziale Zusammenhalt der Deutschen wird sich nur sichern lassen, wenn die, die materiell weniger oder gar nicht unter dem Virus zu leiden haben, mit denen zu teilen bereit sind, deren berufliche Existenz durch Corona bedroht oder bereits vernichtet ist.

      Auf Deutschland könnte eine Umverteilung in den Dimensionen des Lastenausgleichs zugunsten der Heimatvertriebenen und Ausgebombten in der »alten« Bundesrepublik oder der wirtschaftlichen Anstrengungen zur Wiederherstellung der deutschen Einheit nach 1990 zukommen. Doch die deutsche Verantwortung für die Bewältigung der Folgen der Corona-Krise endet nicht an den Grenzen der Bundesrepublik. Von dem, was Deutschland tut oder nicht tut, hängt in hohem Maß die Zukunft der Europäischen Union und ihrer gemeinsamen Währung ab. Eine größere Herausforderung der deutschen Politik als die im Zeichen von Corona lässt sich kaum denken.

      Anmerkungen