Название: Briefe von Toni
Автор: Frank Bresching
Издательство: Bookwire
Жанр: Языкознание
isbn: 9783955102364
isbn:
David wollte ausweichen und ging rückwärts, aber er stieß gegen eine Wand aus eng beieinanderstehenden Körpern. Franz schnellte vor und trat mit voller Wucht in die rechte Kniekehle des bedrängten Jungen. David stürzte zu Boden. Ein paar Jungs aus dem Kreis johlten, andere blieben stumm.
Wie ein Raubtier stürzte sich Erwin auf den am Boden Liegenden, riss ihm die Jacke auf und zerschnitt seinen Pullover und das Unterhemd. Er setzte sich auf ihn, während Franz sich auf die Knie fallen ließ und Davids Kopf zwischen seine Oberschenkel presste. Dann griff er nach Davids Handgelenken, umschloss sie und fixierte seine Arme am Boden.
Ich sah schreckliche Panik in den Augen des jüdischen Jungen lodern, als er bemerkte, dass er sich nicht mehr wehren konnte. Er steckte fest, eingezwängt wie in einem Schraubstock. Dennoch wollte er seine Angst nicht zeigen und sog stoßweise Luft zwischen seinen zusammengepressten Zähnen ein, aber als Erwin die Klinge auf seine linke Brust setzte und zu ritzen begann, kamen ihm die Tränen. Zunächst schluchzte er nur, doch schon bald übermannte ihn der Schmerz. Er heulte los und schrie. Es klang erbärmlich, und sogar die, die eben noch höhnisch gelacht hatten, schwiegen plötzlich. Die Lust am Zuschauen verwandelte sich in lähmendes Entsetzen.
»Du brüllst wie ein Schwein, das mein Vater auf die Schlachtbank führt«, grölte Erwin triumphierend. Blut rann über die Schneide seines Messers. Sein feistes Gesicht, von glühender Röte überzogen, war von einschüchternder Wildheit. Er schnitt weiter, voller Entschlossenheit, sein Werk zu vollenden. Er wollte David eine bleibende Wunde zufügen, eine Verletzung, die eine wulstige Narbe hinterlassen und den Juden ein Leben lang an diese besondere Schmach erinnern sollte. »Schrei, König von Israel, ich will, dass du noch viel lauter schreist …!«
Davids Gesicht war verschmiert von Dreck und Tränen, als Erwin sein Werk vollbracht hatte, aufstand und den blutverschmierten Stern auf Davids linker Brust und den dunklen Fleck zwischen dessen Beinen begutachtete. Zufrieden klappte er sein Messer zusammen, steckte es in die Hosentasche und bedeutete Franz, sein Opfer loszulassen und ebenfalls aufzustehen. Dann sah er jedem von uns in die Augen, prüfend, argwöhnisch. Wir erstarrten unter seinem kalten Blick.
»Schaut ihn euch an, den nach Pisse stinkenden König der Juden. Schaut ihn euch genau an …!« In seine Stimme mischte sich Zynismus, der grausam klang. Langsam stolzierte er im Kreis umher, ungeniert und im Bewusstsein einer infamen Tat setzte er Fuß vor Fuß, fühlte sich offensichtlich beschwingt, energisch und siegestrunken. Franz folgte ihm wie ein Schatten. Als sie sich mir näherten, hoffte ich, dass sie mir nicht ins Gesicht blicken und meine Angst und die schlecht unterdrückte Missbilligung sehen würden. Ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen und wäre am liebsten im Boden versunken, vor lauter Scham und Furcht. Wie erleichtert ich doch war, als Erwin und Franz an mir vorübergingen. Und noch erleichterter war ich, als sie verschwanden. Mit federnden Schritten und hochgereckten Hälsen spazierten sie durch die Lücke des sich widerstandslos öffnenden Kreises, ohne noch etwas hinzuzufügen, als sei alles gesagt und jedes weitere Wort zu viel.
Ich war wütend, ich war aufgebracht, ich fühlte mich von der eigenen Mutlosigkeit gebrandmarkt und wollte nur schnell nach Hause. Leise stahl ich mich davon, passierte den Pritschenwagen, überquerte die Straße, fing an zu laufen, stolperte, fiel auf den schneebedeckten Asphalt, stand wieder auf und lief weiter. Mein Ranzen war schwer, ich spürte sein Gewicht auf meinem Rücken, so wie ich das Gewicht der Schuld auf meinen Schultern spürte. Ich versuchte, das Bild von Davids Angst aus meinem Kopf zu bekommen, seine vor Schrecken geweiteten Augen, seine Schreie und die blutende Wunde auf seiner Brust. Aber es gelang mir nicht. Genauso wenig gelang es mir, meine eigene Furcht vor Erwin Kroschke einzudämmen. Ich hoffte inbrünstig, nie wieder seinen Weg zu kreuzen.
Am nächsten Morgen erlebte ich eine Überraschung. David Bloch saß wieder in unserem Klassenzimmer. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte geglaubt, dass er nicht wiederkommen oder dem Unterricht zumindest für ein paar Tage fernbleiben würde. Bis der Schrecken ein wenig von seiner Kraft eingebüßt hatte. Aber David war gekommen, er saß an seinem Platz, zwei Reihen vor mir. Und weil ich nicht anders konnte, beobachtete ich ihn fortwährend, unauffällig und tatenlos wie am Vortag. Dabei hätte ich die wenigen Gelegenheiten in den Pausen nutzen sollen, hätte ihn ansprechen und sagen müssen, was in einer solchen Situation zu sagen war. Dass es mir leidtue, was geschehen sei. Dass meine Nichteinmischung keineswegs an ihm gelegen habe, vielmehr sei ich an meiner eigenen Angst gescheitert. Dass ich etwas für ihn tun wolle, wenn er mich um etwas bitte. Doch ich konnte mich nicht überwinden, brachte die Worte einfach nicht über meine Lippen und beschränkte mich aufs bloße Starren, wobei ich bemerkte, wie fahl David war, wie glanzlos seine Augen blickten, wie in sich gekehrt er dasaß, noch in sich gekehrter als sonst, und wie leblos er wirkte, als wäre etwas in ihm gestorben. Als hätte Erwin Kroschke nicht nur ein blutiges Mal in seine Brust geschnitzt, sondern ihm auch noch den letzten Rest von Lebenslust geraubt. Und erneut spürte ich die Last der Scham, denn ich wusste, dass ich diesen Raub durch meine Untätigkeit gebilligt hatte.
4
1. September 1939 – 31. Dezember 1942
»Polen hat nun heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen. Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten.«
Adolf Hitlers Worte.
»Jeder Krieg bringt Verluste mit sich.«
Vaters Worte.
»Es wird alles gut, Hänschen, es wird sich alles finden.«
Mutters Worte.
Ich saß am Esszimmertisch und beschäftigte mich mit meinen Hausaufgaben, als Mutter plötzlich beteuerte, alles werde gut. Sie stand mit dem Rücken zu mir und starrte ohne jede Regung durch das Fenster hinaus auf die Straße. Ihre aufrechte Körperhaltung drückte das Bemühen aus, stark zu sein. So verharrte sie eine ganze Weile, bis sie plötzlich zu nicken begann. Sie nickte und nickte, und ich bangte schon, sie würde nicht mehr damit aufhören.
»Ja, alles wird gut. Alles! Davon bin ich überzeugt. Es kann gar nicht anders sein.« Ihre Stimme wirkte unerwartet kräftig. Schließlich klatschte sie in die Hände und drehte sich zu mir um. »Ich werde kochen, Hänschen. Es juckt mir in den Fingern, etwas zu kochen. Speckbohnen mit Kartoffeln wären richtig, nicht? Dein Vater mag Speckbohnen.«
»Ja, Speckbohnen wären gut …«, erwiderte ich überrascht. Es war früher Nachmittag, nicht die rechte Zeit für eine warme Mahlzeit. Wir aßen doch immer erst am Abend. Großen Hunger verspürte ich jedenfalls noch nicht, aber das gab ich nicht zu.
»Fein, ich freue mich, wenn du dich freust«, sagte Mutter. Sie eilte in die Küche, wo sie eine Schürze umband und sich bückte, um zwei Töpfe aus dem Unterschrank zu nehmen. Wie zielstrebig sie auf einmal war, wie flink, wie lebendig! Nichts schien sie beirren zu können. Sie nahm die Kartoffeln aus dem Vorratsschrank hinter der Tür, schälte sie, warf sie in einen der Töpfe, den sie zuvor mit Wasser gefüllt hatte, und putzte mit der ihr eigenen Gründlichkeit die Bohnen. Mit heller Stimme fing sie zu singen an, ein Lied aus ihrer rheinischen Heimat; ich kannte es aus früheren Tagen, als sie es mir vorsang, wenn sie mich zu Bett brachte. Den Text hatte ich nie vergessen.
»Steh’ ich an meinem Fensterlein, schau in die stille Nacht hinein, den ich gesehen hab’ so gerne, der zog von mir in weite Ferne СКАЧАТЬ