Menschwerdung eines Affen. Heike Behrend
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Название: Menschwerdung eines Affen

Автор: Heike Behrend

Издательство: Bookwire

Жанр: Социология

Серия:

isbn: 9783751803045

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СКАЧАТЬ trafen. Sie erkannten, dass meine Aufmerksamkeit für ihre Rituale sie aufwertete. Weil ihre Kinder und Enkel in der Schule lernten, dass die eigenen Traditionen primitiv seien und man sie zugunsten von Fortschritt und Moderne aufgeben müsse, weigerten sich viele Junge, überhaupt an den Ritualen teilzunehmen. Dadurch stockte die rituelle Karriere der Väter und Großväter, die nun nicht mehr ihre soziale Person vervollständigen und sich in Ahnengeister verwandeln konnten. Mein Interesse für Traditionen und Rituale gab ihnen eine neue Beachtung und bewirkte immerhin, dass Kipsang sich entschloss, ein wichtiges Ritual durchzuführen, das nicht nur ihn, sondern auch seinen Vater zu einer »größeren Person« machte.

      Ich kann nicht ausschließen, dass die Ältesten im Rahmen ihres zyklischen Geschichtsverständnisses hofften, dass die Erzählungen, die sie mir schenkten, eine verlorene Vergangenheit wieder aufleben ließ und ihre Wiederkehr herbeiführen würde.

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      Mit ihrem zyklischen Altersklassensystem gewannen die Ältesten das Privileg, nicht nur die jüngeren Generationen, sondern auch die Zeit selbst zu kontrollieren. Die Festlegung des Initiationsrituals ermächtigte sie, einen radikalen Neuanfang zu setzen. Gegen die biologische Zeit etablierten sie eine soziale, die mit der rituellen Geburt der Initianden begann, die Vorzeit auslöschte und die Kindheit rückgängig machte.

      In vorkolonialer Zeit nahmen Männer und Frauen die Bewegung der Sonne am Horizont für einen Kalender, nach dem sie ihre Tätigkeiten ausrichteten. Vom festen Standpunkt aus beobachteten Astronomen die aufeinanderfolgenden Sonnenaufgänge am Horizont im Osten. Wie auf dem Zifferblatt einer Uhr legten sie eine Visierlinie fest, in der sie die wandernden Orte des Sonnenaufgangs mit besonders hervorstechenden Punkten am Horizont verbanden. Einige dieser Punkte nannten sie »die oberen (im Süden) oder unteren (im Norden) Häuser der Sonne«. So begannen sie zum Beispiel mit der Brandrodung der Felder erst, wenn die Sonne das obere Haus verlassen hatte.

      Obwohl ihnen die Bewegung der Sonne am Horizont einen Maßstab lieferte, blieb diese Zeitbestimmung punktuell und situationsgebunden. Sie übte keinen umfassenden Zwang auf die Handlungen der Menschen aus. Diese mussten nicht gegen die Zeit kämpfen, und sie lief ihnen auch nicht davon.

      Die Ältesten und ich gingen sehr unterschiedlich mit Zeit um. Während ich unter akuter Zeitnot litt und versuchte, meinen Aufenthalt in den Tugenbergen möglichst effektiv zu gestalten, weil Zeit und Forschungsgelder knapp bemessen waren, schienen die Ältesten Zeit im Überfluss zu haben. Die meisten hatten keine Armbanduhr; wir verabredeten einen Termin, indem er, sie oder ich mit dem ausgestreckten Arm den Stand der Sonne beziehungsweise des fallenden Schattens markierte. Diese Art der zeitlichen Vereinbarung eröffnete einen beachtlichen Spielraum. Oft waren wir mehrere Stunden unterwegs, um einen bestimmten Ältesten zu treffen. Kamen wir endlich an, war er nicht zu Hause. Wir warteten, oft stundenlang und manchmal vergeblich. Anfangs bekam ich Wutanfälle über die vermeintlich verlorene Zeit; erst allmählich lernte ich, gelassen mit solchen Situationen umzugehen. Tatsächlich erwiesen sie sich manchmal als äußerst produktiv. Während des Wartens tauchten Leute auf, die ich nicht kannte, und erzählten den neuesten Tratsch, oder Kipsang und ich begannen ein Gespräch über einen Traum, den er gehabt hatte und den wir höchst unterschiedlich interpretierten. Meist gelang es mir nach einigen Wochen, ruhiger zu werden und mein Leben zu entschleunigen.

      Doch in den Augen der Bewohner der Tugenberge blieb ich ein unruhiges, eiliges Wesen. Das großstädtische Berliner Tempo meines Ganges und meine hektischen Bewegungen führten, wie bereits erwähnt, zu Heiterkeitsausbrüchen; in den Augen meiner Beobachter fehlte mir jede Würde. Auch Frauen und Männer in den Tugenbergen mussten sich manchmal beeilen und von einem Berg zum anderen hetzen. Viele von ihnen können extrem schnell laufen, stellen die Kalenjin doch heute die besten Langstrecken- und Marathonläufer der Welt. Doch sowie sie in Sichtweite anderer Leute kamen, bremsten sie, wischten sich den Schweiß von der Stirn, brachten ihre Kleidung in Ordnung und wechselten in eine beherrschte und würdevolle Gangart.

      Während der Kolonialzeit begann sich der Gebrauch von westlichem Kalender und von Uhren durchzusetzen. Obwohl die ersten Uhren vor allem Prestigegüter waren und nur wenig Einfluss auf das Alltagsleben nahmen, führten vor allem Schulen und andere westliche Institutionen die abstrakte Zeit ein und sorgten für radikale Veränderungen. Ich erinnere mich an einen Lehrer in Kabartonjo, der sich anbot, für uns eine Sightseeingtour zu organisieren. Er wollte uns die Klippen zeigen, von denen die zu alt gewordenen Ältesten, die ihre Altersklasse überlebt hatten, in den Tod springen mussten,12 sowie einige Höhlen, in denen die Sirikwa, die ersten Europäer, gelebt hatten. Er trug eine Armbanduhr und hatte einen genauen Zeitplan ausgearbeitet: 10:52 Uhr Abfahrt, 11:33 Uhr Ankunft bei den Klippen und so weiter. Er bestand auf der Einhaltung seines Plans, und wir mussten hetzen, um ihn zu erfüllen. So führte er mir in karikierender Weise meinen eigenen Umgang mit der Zeit vor Augen.

      16

      Nachdem ich zu Kopcherutoi, meiner neuen Mutter, auf den Berg Rimo gezogen war, nahm ich Anfang der 1980er ein Polaroidfoto von ihr auf. Ich bat um Erlaubnis, und sie willigte ein. Für das Foto posierte sie nicht. Sie ging weiter ihrer Arbeit nach und kümmerte sich nicht um mich; als die Kamera klickte, schaute sie kurz auf. Ich schenkte ihr das Foto, ein fremdes Bild ihrer Person. Sie hielt es verkehrt herum, sah flüchtig hin, lächelte und verbarg es unter einem Stein ihres Vorratsspeichers. Ich weiß nicht, ob sie sich erkannte. Zu ihrem Haushalt gehörte kein Spiegel. Wenn sie sich selbst sehen wollte, konnte sie ihr Abbild auf einer Wasseroberfläche spiegeln. Ansonsten war sie vor allem das, was andere in ihr sahen. Später zeigte Kipsang ihr ein weiteres Foto und erklärte ihr, dass sie diejenige sei, die dort abgebildet war. Sie lächelte wieder und legte das Foto beiseite; es interessierte sie nicht.

      In vorkolonialer Zeit stellten die Bewohner der Tugenberge keine Porträts in Form von Bildern, Masken oder Skulpturen her. Wie in anderen eher pastoralen Gesellschaften war ihre materielle Kultur auf das Notwendigste beschränkt. Die Ältesten nutzten, wie bereits erwähnt, den menschlichen Körper, um die soziale Biografie buchstäblich in ihn einzuschneiden. Wunden, und später Narben, zeigten den anderen, wer man war.

      In den 1950er-Jahren, noch vor dem Ende der Kolonialzeit, eröffneten vereinzelt Fotostudios in den größeren Orten der Tugenberge – nicht in Bartabwa – und gaben vor allem den Jüngeren die Möglichkeit, fotografische Porträts von sich und anderen zu bekommen. Während die Jungen und »modernen« Leute einen kleinen Kult mit Fotos betrieben, zeigten die Ältesten kaum Interesse. Sie waren jedoch nicht bilderfeindlich, wie die weiter nördlich lebenden Pokot, die den Akt des Fotografierens und Filmens als eine Form des Raubes ansahen, der ihnen Substanz nahm und sie dünner werden ließ. Wenn Touristen sie fotografieren wollten, verweigerten sie sich oder verlangten sehr viel Geld. Im Gegensatz dazu verhielten sich die Ältesten in Bartabwa, wie schon Kopcherutoi, Bildern gegenüber eher gleichgültig.

      Was bedeutet es, in einer solchen Gesellschaft zu filmen oder zu fotografieren? Da die Ältesten große Erzähler, Künstler des Wortes und der Gesten waren, wollte ich unbedingt einen Film über sie und ihre Sicht auf die Welt drehen. Als Teil meiner Ausbildung an der Berliner Film- und Fernsehakademie wollte ich das »endlose Gespräch«, das wir begonnen hatten, vor der Kamera fortsetzen. Ich fragte Kopcherutoi, Aingwo, Kabon und den Wahrsager Sirpen, ob sie mir erlauben würden, sie zu filmen. Da ein paar Jahre zuvor katholische Missionare einen Jesus-Film in Bartabwa gezeigt hatten, kannten sie das Medium bereits. Sie waren einverstanden und gaben mir die Erlaubnis, sie so aufzunehmen, wie sie sich vor der Kamera darstellen wollten.

      Zusammen mit der Kamerafrau Hille Sagel13 habe ich 1980/81 zwei ethnografische Filme in den Tugenbergen gedreht: Im Bauch des Elefanten (1982) und Gespräche mit Kopcherutoi (1985). Im Gegensatz zu mir hatte Hille bereits Filmerfahrungen gesammelt und schon erfolgreich einen Spielfilm gedreht. Sie besuchte Afrika zum ersten Mal. Wir hatten deshalb ausgemacht, dass, falls sie mit der Situation vor Ort nicht zurechtkäme, sie jederzeit nach Hause fahren könne. Doch Hille zeigte СКАЧАТЬ