Die kürzeste Geschichte der Musik. Martin Geck
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Название: Die kürzeste Geschichte der Musik

Автор: Martin Geck

Издательство: Bookwire

Жанр: Изобразительное искусство, фотография

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isbn: 9783159617527

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СКАЧАТЬ Messe.

      So ist in mittelalterlichen Chroniken von einem rituellen Reigen die Rede, den im Jahr 1020 aufrührerische Bauern auf dem Kirchhof des mitteldeutschen Dorfes Kölbingk tanzen, um die Weihnachtsmesse zu stören. Eine dazu überlieferte Gesangsstrophe lautet:

      Ritt einst Bowo durch den Wald so grüne,

      führte mit sich Merswint die Schöne.

      Was stehn wir? Warum nicht gehn wir?

      Der Sinn dieser Zeilen ist unklar; jedoch hielt die damalige Obrigkeit die Aktion in Kölbingk für so gefährlich, dass sie die Legende ausstreuen ließ, der erzürnte Priester habe die Bauern dazu verdammt, ein ganzes Jahr durchzutanzen.

      Es gibt auch andere Zeugnisse dafür, dass das germanische Brauchtum im christlichen Mittelalter nicht völlig untergegangen ist. Selbst das gelegentlich noch heute zu hörende Spiellied

      Ringel, rangel, reihe,

      sind der Kinder dreie,

      sitzen unterm Hollerbusch,

      machen alle husch, husch, husch

      ist nicht so »harmlos«, wie es den Anschein hat: Der Holler- oder Holunderbusch steht für die altgermanische Frau Holda oder Frau Holle, die ursprünglich eine Göttin der Fruchtbarkeit war und später unter dem Einfluss des Christentums zur Anführerin der Schar ungeborener Kinder wurde, die als elfen- oder hexenhafte Wesen während der »Zwölf Nächte« zwischen Heiligabend und dem Dreikönigstag durch die Lüfte fahren. In seinem Tannhäuser, einer im Mittelalter spielenden Oper, lässt Richard Wagner einen jungen Hirten singen:

      Frau Holda kam aus dem Berg hervor,

      zu ziehn durch Wälder und Auen;

      gar süßen Klang vernahm da mein Ohr,

      mein Auge begehrte zu schauen …

      Im Mittelalter gaben freilich andere »süße Klänge« den Ton an – nämlich diejenigen des gregorianischen Chorals und der katholischen Liturgie. Und beide sollten, wie gesagt, möglichst im gesamten Abendland auf ein und dieselbe Weise erklingen. Das ist bekanntlich in erstaunlichem Maße geglückt: Noch im 21. Jahrhundert ist der gregorianische Choral in vielen Ländern ein fester Bestandteil der katholischen Messe. Wer heute in Deutschland einen solchen Gottesdienst besucht, wird dort Weisen hören, die nach wie vor an der mehr als tausend Jahre alten Gregorianik orientiert sind, obwohl die Texte der Liturgie inzwischen nicht mehr in lateinischer, sondern in deutscher Sprache vorgetragen werden.

      Einheitlichkeit von solchem Ausmaß konnte dauerhaft nur erreicht werden, wenn man die Töne des gregorianischen Chorals schriftlich fixierte und entsprechend verbreitete. Zwar verwendeten schon andere Völker eine Notenschrift, unter anderem Chinesen und Griechen. Doch das waren Wort- oder Buchstabenschriften. Demgegenüber machen Mönche in den europäischen Klöstern des 7. bis 13. Jahrhunderts die phantastische Entdeckung einer Notenschrift von ganz neuer Qualität.

      Am Anfang stehen »Neumen«; man könnte sie vage als Wegmarken beim Vortrag des einstimmigen gregorianischen Chorals bezeichnen. Später werden sie durch Noten im heutigen Sinn ersetzt, die ihren Platz in einem ausgeklügelten Liniensystem finden und die Tonhöhe genau angeben. Nach und nach differenziert man außerdem zwischen unterschiedlichen Tonlängen, so dass sich auch rhythmisch komplizierte Melodien exakt notieren lassen. Das Ganze ist ein langer Prozess, der erst im 13. Jahrhundert mit der »Mensuralnotation« zu einem vorläufigen Abschluss kommt. Ihr Name kommt vom Lateinischen »mensurare« (»messen«) und besagt, dass man mit ihrer Hilfe die relative Zeitdauer der einzelnen Töne genau angeben kann.

      Wäre es ihnen lediglich darum gegangen, einstimmige Melodien zu fixieren, hätten sich die mittelalterlichen Musikgelehrten den Kopf nicht so ausgiebig um die Notation zerbrechen müssen. Und in der Tat gilt ihr Interesse einem weiteren, viel spannenderen Phänomen: Während die Mönche ihre Weisen niederschreiben, kommt ihnen der Gedanke, eine zweite und womöglich dritte Stimme exakt unter die erste zu setzen; würde man dieses »mehrstimmig« Notierte tatsächlich aufführen, könnten die Weisen der Liturgie zur höheren Ehre Gottes in besonderem Schmuck erklingen.

      Dergleichen hat freilich nur Sinn, wenn das jeweils untereinander Stehende auch gut zusammenklingt. Also muss man das »Komponieren« lernen, das heißt wörtlich: die sinnvolle Zusammenstellung von Tönen. Die »Partitur«, wie man die Zusammenschreibung mehrerer Stimmen später nennt, wird zu einer Art Landkarte. Auf ihr ist nicht nur der »Weg« der einzelnen Stimme eingezeichnet, vielmehr kann man auch den Gang der ganzen mehrstimmigen Komposition nachvollziehen und ihre schöne Ordnung auch lesend genießen.

      Rückblickend erscheint es rätselhaft, dass die mittelalterlichen Gelehrten viele Generationen, ja Jahrhunderte gebraucht haben, um ihre Entdeckung wirklich zu nutzen und eine in unseren Ohren vollgültig mehrstimmige Musik zu komponieren. Man muss sich jedoch ihren Ausgangspunkt klarmachen: Einfache Mehrstimmigkeit wurde von den Volksmusikern längst praktiziert. Diese kannten zwar keine Noten, waren aber in der Lage, aus dem Kopf zu einer Hauptstimme eine zweite Stimme zu erfinden, welche die erste begleitet oder umspielt. (Heute gibt es Vergleichbares noch im Jazz.)

      Solcherart improvisierte Mehrstimmigkeit wurde freilich von den mittelalterlichen Musikkennern geringgeschätzt, mochte sie ihnen insgeheim auch gut gefallen. Sie mussten daher den Eindruck erwecken, als würden sie die Mehrstimmigkeit neu entdecken. Und weil die dafür zuständigen Gelehrten das Komponieren – ähnlich wie im alten China – als eine philosophische und theologische Tätigkeit betrachteten, wollten sie vor allem beweisen, dass komponierte Mehrstimmigkeit dem göttlichen Schöpfungsplan entsprach. Für die Zusammenstellung der Töne waren somit dieselben Zahlenverhältnisse maßgebend wie für den gesamten Kosmos.

      Fasziniert waren die Mönche von einer Beobachtung, die schon andere, zum Beispiel der griechische Philosoph und Mathematiker Pythagoras, gemacht hatten: Teilt man eine Saite im Verhältnis 1 : 2 oder 2 : 3 oder 3 : 4 und zupft sie anschließend an, so erhält man zum Grundton die Oktave (1 : 2), die Quinte (2 : 3) und die Quarte (3 : 4). In diesem einfachen Zahlenverhältnis 1 : 2 : 3 : 4 sah man einen Wink der Schöpfung, wie sich die mehrstimmige Musik theologisch korrekt einrichten ließe, und man komponierte zunächst schlichte »Organa«, also Stücke, in denen die Parallelbewegung von Oktaven, Quinten und Quarten vorherrschte. Das hörte sich allerdings so langweilig an, dass die Mönche phantasievoller werden mussten, wenn die Praktiker nicht über sie spotten sollten. Bis zum Ende des 15. Jahrhunderts entstanden dann in der Tat wahre kompositorische Wunderwerke, die zwar weiterhin streng nach bestimmten Zahlenverhältnissen geordnet waren, zugleich aber ein reiches harmonisches Gewebe bildeten.

      Obwohl es die kunstvolle Mehrstimmigkeit gewesen ist, welche der europäischen Musik eine bis heute andauernde Weltgeltung verschafft hat, wäre es falsch zu glauben, dass sie das Musikleben des europäischen Mittelalters durch und durch geprägt hat. Wir vergessen leicht, dass sie zunächst nur in wenigen kirchlichen und weltlichen Zentren heimisch gewesen, der einfachen Bevölkerung jedoch unbekannt geblieben ist.

      Das Volk erfreute sich vor allem an der schriftlosen Kunst der Spielleute, die – anders als die Mönche – auf unmittelbaren Kontakt mit ihrem Publikum bedacht waren. Sie spielten mitreißend zum Tanz auf, begleiteten sich zu ihren Heldengesängen und wirkten bei den unterschiedlichsten Theateraufführungen und Gaukeleien mit. Anders als die strenge kirchliche Kultur setzten sie auf die Abenteuer-, Hör-, Lach- und Bewegungslust von Menschen, die für einen Augenblick wieder »Kind« werden und sich naiv freuen oder gruseln wollten.

      Die Vertreter von Obrigkeit und Kirche reagierten säuerlich oder feindlich. Sie nannten die Spielleute »Lockvögel des Teufels«, verwehrten ihnen bürgerliche Rechte und machten СКАЧАТЬ